Moskau. Sergej begeht Suizid, weil er nicht in den Ukraine-Krieg ziehen will. Seine Familie stellt Fragen – und wird fürs Militär zum Problem.

  • Für viele junge Russen hat sich das Leben drastisch verändert: Viele Wehrpflichtige werden in die Ukraine eingezogen, obwohl sie es nicht wollen und obwohl das eigentlich verboten ist
  • Das bringt viele junge Männer in die Verzweiflung: Der Tod des 20-jährigen Sergej Gridin sorgt nun für Entsetzen
  • Was wirklich mit ihm passiert ist, ist unklar. Seine Familie hat viele Fragen

„Ich will diese Qualen, die diese Tiere mir angetan haben, nicht beschreiben, aber ich kann damit nicht leben.“ Sergej Gridin, ein junger russischer Wehrpflichtiger mit kindlichem Gesicht, wurde gerade mal 20 Jahre alt. Am 10. Februar erhängte er sich mit einem Gürtel, der an einer Metallleiter eines Wasserturms befestigt war. Ein grausamer Tod.

Seine Vorgesetzten versuchten, ihn dazu zwingen, in die Ukraine zu gehen, einen entsprechenden Vertrag zu unterschreiben. So beschreibt es Sergej in seinem Abschiedsbrief. „Ich möchte Menschen nicht gehorchen, die nichts als Angst und Ekel einflößen. Deshalb habe ich beschlossen, hier in meiner Heimat zu sterben, ohne das Blut eines anderen an meinen Händen.“ Am 15. Februar wurde Sergej Gridin beerdigt.

Russlands Krieg gegen die Ukraine: Eltern sind verzweifelt

Doch bis heute stellen seine Eltern und seine Schwestern Fragen. Unbequeme Fragen, die vielleicht nie vollständig beantwortet werden. Warum hat sich Sergej umgebracht? Was war geschehen?

Lesen Sie auch: Waffenkunde für Kinder: Russland erzieht sich Schulsoldaten

So viel ist klar: Gridin wurde im November 2022 eingezogen, bis zu seinem Tod diente er drei Monate in der Armee. Stationiert war er im Bezirk Krasnogorsk in der Region Moskau. Beim Militär war er nicht gerade glücklich, beschwerte sich laut der Online-Plattform „severreal.org“ bei seiner Schwester Valeria. „Ich habe oft über seine Geschichten gelacht, seinen Dienst in der Schneeräumtruppe“, erinnert sie sich.

„Egal wann ich mit ihm telefonierte, er hat gestern und heute Schnee geräumt und wird es morgen wieder tun. Wie sollten sie ihn mit einer solchen Ausbildung überhaupt in die Ukraine versetzen?“

Sergej sollte in die Ukraine – ohne einen Vertrag unterschrieben zu haben

Von einer möglichen Verlegung ins Kampfgebiet erfuhr Gridins Familie erstmals Anfang Januar dieses Jahres. „Nach Neujahr rief er uns an und sagte, dass sie ihn in die Ukraine schicken wollten. Aber dann tat er so, als wäre es ein Scherz. Wie wir jetzt verstehen, war das vielleicht kein Witz “, sagt Valeria.

Sergejs jüngere Schwester Polina ergänzt in einem Interview mit dem Internetsender TV Rain: „Er hätte nicht in die Ukraine geschickt werden sollen, weil er Sehprobleme hat, er nahm Pillen für das Sehvermögen.“

In seinem Abschiedsbrief macht der 20-Jährige der Armee schwere Vorwürfe.
In seinem Abschiedsbrief macht der 20-Jährige der Armee schwere Vorwürfe. © Twitter/@HannaLiubakova | Twitter/@HannaLiubakova

In seinem Abschiedsbrief schreibt Sergej, er sollte „rotationsbedingt in die Ukraine“ – was nicht zulässig wäre. Wehrpflichtige dürfen nicht ins Kampfgebiet geschickt werden, nur Soldaten, die freiwillig einen speziellen Vertrag unterschrieben haben. Dies stellte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow vor einem Jahr klar: „Vor Beginn der militärischen Sonderoperation wurden auf Anweisung des Präsidenten Russlands, des Oberbefehlshabers Wladimir Putin, alle Kommandeure der Einheiten der Streitkräfte angewiesen, die Beteiligung von Wehrpflichtigen für jegliche Aufgaben auf dem Territorium der Ukraine kategorisch auszuschließen.“

Geschehen ist dies trotzdem. Das hat das russische Verteidigungsministerium in der Zwischenzeit auch zugegeben. „Praktisch alle diese Soldaten“ seien aber zurück in Russland, einige allerdings wurden von der ukrainischen Armee gefangen genommen.

NameWladimir Wladimirowitsch Putin
Geburtsdatum7. Oktober 1952
GeburtsortSankt Petersburg
SternzeichenWaage
AmtPräsident der Russischen Föderation
Im Amt seit2000 (Unterbrechung von 2008 bis 2012)
FamilienstandGeschieden, mindestens zwei Kinder
Größeca. 1,70 Meter

Zum Grundwehrdienst sollen 147.000 Russen eingezogen werden

In Russland dauert der Grundwehrdienst ein Jahr, vergangenen Samstag begann die Frühjahreseinberufung, 147.000 Männer im Alter zwischen 18 und 27 Jahren sollen eingezogen werden. Das sind etwa zehn Prozent mehr als vor einem Jahr. Melden kann man sich in diesem Jahr erstmals auch online.

Grundwehrdienstleistende würden nicht an die Front geschickt, betonte auch Konteradmiral Wladimir Zimljanski vom russischen Generalstab. Die „Spezialoperation“ will man ausschließlich mit Freiwilligen und ohne eine neue Teilmobilisierung gewinnen. „Gegenwärtig hat die Zahl der Bürger deutlich zugenommen, die sich entscheiden haben, freiwillig am Kriegsdienst per Vertrag teilzunehmen“, so Zimljanski.

Nicht freiwillig an der Front sind die vergangenes Jahr mobilisierten Reservisten. In den sozialen Netzwerken tauchen immer mehr Videos auf, in denen ihre Angehörigen Aufklärung verlangen. So forderten Ende 2022 Mütter von Mobilisierten aus der Region Woronesch die Behörden auf, herauszufinden, wo sich ihre Söhne aufhielten. „Wir bitten die Behörden, uns bei der Klärung zu helfen“, sagte eine der Frauen.

„Wir, die Mütter des Pawlowsk-Distrikts, schließen uns den Müttern von Woronesch an“, hieß es in einem anderen Video. Ihre Söhne seien unter schwierigen Bedingungen an der Front, ohne Wasser, ohne notwendige Kleidung. „Unsere Söhne bitten um Hilfe!“

Schwester macht Vorwürfe: Spuren von Schlägen an Sergejs Körper

Auch der junge Wehrpflichtige Sergej Gridin sollte wohl in den Kampf ziehen. In seinem Abschiedsbrief sagt er, er sei „eingeschrieben“, müsse dorthin, von wo niemand aus seiner „Firma“ zurückgekehrt sei. Gemeint ist wohl ein Einsatz in der Ukraine. Er habe den Kommandanten gebeten, ihn in der Einheit zu lassen, woraufhin der Kommandant und die Unteroffiziere anfingen, ihn zu verspotten.

Sergei Gridin setzte seinem Leben ein Ende. Er wolle nicht das Blut eines anderen an seinen Händen haben.
Sergei Gridin setzte seinem Leben ein Ende. Er wolle nicht das Blut eines anderen an seinen Händen haben. © Twitter/@HannaLiubakova

War das alles? Oder war da noch mehr? Sergejs jüngere Schwester sagt, die Familie habe am 11. Februar von Sergejs Tod erfahren. Die Leiche wurde ihrer Aussage zufolge erst am Morgen entdeckt, obwohl er sich um 22 Uhr erhängt hatte. Am Körper ihres Bruders seien Spuren von Schlägen gefunden worden. Im Untersuchungsbericht ist davon keine Rede. Wurde Sergej Gridin nicht nur verspottet und schikaniert, sondern auch geschlagen, gequält?

Auch interessant: So denken die Russen über den Konflikt

Gewalt in russischen Kasernen ist kein neues Thema. Immer wieder wird darüber berichtet. Oftmals werden diese Taten vertuscht, manchmal allerdings werden die Täter auch zur Rechenschaft gezogen. Die Strafen fallen in der Regel milde aus. So verurteilte das Militärgericht der Sotschi-Garnison einen Vorgesetzten zu zwei Jahren Gefängnis auf Bewährung.

Betrunken hatte er Wehrpflichtige geschlagen, die den Vertrag in Sachen Ukraine-Einsatz nicht unterschreiben wollten. Danach befahl er den Wehrpflichtigen, Liegestütze zu machen. Ließ sie zwangsexerzieren. Bis zu fünf Jahre Haft stehen auf derartige Quälereien, doch das Militärgericht ließ Milde walten.

Familie von Sergej Gridin will einen Anwalt einschalten

Die Liste lässt sich fortsetzen: In einer Garnison in der Region Swerdlowsk starben im Oktober 2022 drei Soldaten. Einer nach einem Angriff seiner Kameraden, der zweite beging Suizid, der dritte wurde entlassen und starb zuhause an einer Lebererkrankung. Dies bestätigte der regionale Parlamentsabgeordnete, unter Berufung auf das Militär.

Nach dem Selbstmord von Sergej Gridin laufen die Ermittlungen. Vieles ist unklar. Seine Familie glaubt, man hätte ihn in den Selbstmord getrieben, will einen Anwalt einschalten. „Sergej war sanft, friedlich, aber gleichzeitig sehr hartnäckig, er unterstützte immer alle, manchmal zeigte er sich klüger als seine Eltern“, sagt seine Schwester Valeria. „Ich kann nicht glauben, dass er sich zu einem solchen Schritt entschlossen hat, es liegt einfach nicht in seinem Charakter.“

Anmerkung der Redaktion: Aufgrund der hohen Nachahmerquote berichten wir in der Regel nicht über Suizide oder Suizidversuche, außer sie erfahren durch die Umstände besondere Aufmerksamkeit. Wenn Sie selbst unter Stimmungsschwankungen, Depressionen oder Selbstmordgedanken leiden oder Sie jemanden kennen, der daran leidet, können Sie sich bei der Telefonseelsorge helfen lassen. Sie erreichen sie telefonisch unter 0800/111-0-111 und 0800/111-0-222 oder im Internet auf www.telefonseelsorge.de. Die Beratung ist anonym und kostenfrei, Anrufe werden nicht auf der Telefonrechnung vermerkt.