Paris. Zur Empörung von Opposition und Gewerkschaften setzt Macron die Rentenreform durch – per Dekret. Im ganzen Land flammen Proteste auf.

Erst waren es ein paar Dutzend, dann Hunderte und schließlich 6000 aufgebrachte Menschen, die sich am Donnerstagabend auf der Pariser Place de la Concorde versammelten. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht verbreitet, dass Premierministerin Elisabeth Borne die seit Monaten hochumstrittene Rentenreform mit der Brechstange durch die französische Nationalversammlung geboxt hatte – sprich per Dekret und ohne, dass die Volksvertreter hätten abstimmen können.

Spontan war die zu Beginn friedliche Protestaktion keineswegs, sondern von zwei Jugendorganisationen der Gewerkschaften schon tags zuvor ausgerufen und von den französischen Behörden genehmigt worden. Als jedoch einige Demonstranten am frühen Abend Holzpaletten mitten auf dem Platz in Brand steckten, schritten die Ordnungskräfte ein. Prompt entwickelte sich eine regelrechte Straßenschlacht im Zentrum von Paris, bei der die von Randalierern mit Steinen und Molotow-Cocktails bombardierte Polizei Wasserwerfer und Tränengas einsetze. Erst gegen 23 Uhr beruhigte sich die Lage, es kam zu rund 270 Festnahmen.

Ausschreitungen und Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Randalierern gab es noch in weiteren Städten in Frankreich. In Marseille verwüsteten radikale Reformgegner mehrere Geschäfte und setzten wie auch in Nantes Müllbehälter in Brand. Ähnliche Szenen spielten sich in Dijon und Lyon ab, wo die Demonstranten zudem Pappfiguren in Gestalt von Präsident Emmanuel Macron, Regierungschefin Borne oder Arbeitsminister Olivier Dussopt verbrannten.

Rentenreform in Frankreich: Opposition könnte Gesetz durch Missbrauchsvotum kippen

Nach wochenlangen Protesten und hitzigen Debatten hatte Frankreichs Präsident Macron am Donnerstag zumindest dem legislativen Streit um seine umstrittene Rentenreform ein Ende gesetzt. Nachdem der Senat den Text zur schrittweisen Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 am Vormittag mit großer Mehrheit verabschiedet hatte, ließ er ihn am Nachmittag per Dekret durch die Nationalversammlung peitschen, weil dort das Votum negativ auszufallen drohte.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron muss fürchten, dass die Proteste gegen die Rentenreform noch zunehmen.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron muss fürchten, dass die Proteste gegen die Rentenreform noch zunehmen. © AFP | ALAIN JOCARD

Wenn allein zählen würde, was unter dem Strich herauskommt, könnte sich Macron nun zurücklehnen. Doch dem ist nicht so. Zwar ermöglicht es der Verfassungsparagraph 49.3 der französischen Regierung, ein Gesetzesvorhaben auch ohne ein Votum der Volksvertreter durchzudrücken und für gültig zu erklären. Aber der Opposition bleibt noch die Möglichkeit, dieses Gesetz durch ein Misstrauensvotum zu kippen. Und grüne, sozialistische, linksradiale und rechtsextreme Parlamentsfraktionen haben umgehend angekündigt, die Vertrauensfrage zu stellen.

Elisabeth Borne dürfte wohl dennoch nicht stürzen. Sie verfügt zwar über keine absolute Parlamentsmehrheit, aber eine Mehrheit gegen sie ist ebenfalls nicht in Sicht. So haben die konservativen Republikaner bereits klar gemacht, dass sie auf keinen Fall gemeinsame Sache mit den Rechts- oder Linksextremen zu machen gedenken.

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Gewerkschaften und Mehrheit der Franzosen fühlen sichprovoziert

Größer ist hingegen die Gefahr, dass der Rückgriff auf den Zwangsparagraphen 49.3 den Reformgegnern neuen Aufrieb verleiht. Dieser ist zwar legal, gilt aber als ein Zeichen der Schwäche der Exekutive und hat noch stets für erheblichen Zorn bei der „kurzgeschlossenen“ Opposition gesorgt – oder, wie in diesem Fall, darüber hinaus bei den Gewerkschaften, die seit dem Januar gegen die Rente ab 64 anrennen. An bislang acht „Aktionstagen“ brachten sie bei Großdemonstrationen bis zu eineinhalb Millionen Menschen auf die Straße, während gleichzeitig befristete Streiks zu erheblichen Störungen im öffentlichen Verkehrswesen, im Schulbetrieb, bei der Stromproduktion oder bei der Müllabfuhr führten.

Die Gewaltausbrüche am Donnerstagabend geben in diesem Zusammenhang Grund zu Sorge. Erstens, weil die Anzahl der Demonstranten und Streikenden zuletzt abgenommen hatte und zweitens, weil die Proteste bisher beinahe ausnahmslos friedlich geblieben sind. Aber die Gewerkschaften sowie eine große Mehrheit der Franzosen, die die Rentenreform zu zwei Dritteln rundweg ablehnen, sehen die Anwendung des Paragraphen 49.3 als eine Provokation an. Sogar die größte und gemäßigte Gewerkschaft CFDT schloss sich daher dem Aufruf der übrigen Arbeitnehmerorganisationen zu einen neunten Aktionstag in der kommenden Woche an.

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Der Kampf um die Rentenreform ist also noch keineswegs ausgestanden. Und weder Macron noch Borne sind aus dem Schneider, wenn sich die Protestfront vergrößern und radikalisieren sollte. Bislang konnten sie auf einen gewissen Fatalismus der Franzosen setzen, die laut Umfragen zu 80 Prozent der Meinung sind, dass die Rente ab 64 am Ende doch kommen wird. Auch ist es den Reformgegnern nicht gelungen, die Angestellten in der Privatwirtschaft oder die Schüler und Studenten zu mobilisieren. Seit der Nacht auf Freitag jedoch gebührt dieser Feststellung ein Nachsatz: Noch nicht!