Berlin. In vielen Behörden herrscht noch Aktenwüste statt digitaler Verwaltung. Bund und Länder schieben sich dafür gegenseitig die Schuld zu.

Um zu beurteilen, wie es zwischen Behörden und Bürgern beim Thema Digitalisierung so läuft, reicht eine Posse aus der vergangenen Woche: Weil die sogenannte Bund-ID ein Schattendasein fristet, zwingt die Bundesregierung jetzt – möglicherweise rechtswidrig – zahlreiche junge Menschen dazu, sich eine Bund-ID anzulegen.

Nur wer das tut, erhält die Einmalzahlung von 200 Euro zur Entlastung bei hohen Energiepreisen. Die Bund-ID ist das Online-Konto des Bundes mittels dessen Bürgerinnen und Bürger seit 2019 im Netz Verwaltungsleistungen in Anspruch nehmen können. Die meisten Menschen in Deutschland haben von dieser Funktion jedoch noch nie etwas gehört. Trotz allem bezeichnet ein Sprecher des Bundesinnenministerium die Funktion gegenüber unserer Redaktion als „etabliert.“

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Aber stimmt das? Mehr als 69,3 Millionen Bürger haben theoretisch einen Personalausweis und könnten damit auch eine Bund-ID haben. Aber nicht einmal ein Prozent der potenziellen Nutzer nutzen die Funktion. Vor einer Woche waren über 407.000 Nutzer registriert. Allerdings gab es wegen der Einmalzahlung erstmals einen sprunghaften Anstieg: Seit Ende Januar 2023 kamen über 150.000 Nutzer hinzu.

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Die Bürgerinnen und Bürger brauchen offenbar einen finanziellen Anreiz, um umzusteigen und künftig digital mit den Behörden kommunizieren. Die Skepsis oder Scheu könnte auch darin begründet sein, dass zum Beispiel bei der Einmalzahlung datenschutzrechtliche Fehler gemacht wurden. Zahlreiche andere digitale Behördenleistungen wurden zu spät eingeführt und dann noch schlecht gemacht. Dementsprechend landet Deutschland im Vergleich aller 27 EU-Länder (DESI) beim Digitalisierungsgrad gerade einmal auf Platz 13.

Ende 2022 kam dann die Nachricht, dass Bund und Länder ihre selbstgesteckten Ziele für den Online-Zugang zu Leistungen der Verwaltung weit verfehlt haben. Damit sollen Bürger Behördengänge zum Beispiel wegen eines Umzugs über das Internet erledigen können. Bund und Länder hatten eigentlich fünf Jahre Zeit, um diese Verwaltungsdienstleistungen zu digitalisieren. Dazu verpflichtete sie das Onlinezugangsgesetz, das im August 2017 vom Bundestag beschlossen wurde. Bis Ende 2022 hätten alle 575 Verwaltungsdienstleistungen im Netz verfügbar sein müssen.

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Doch ein Blick auf eine Übersichtstafel, die das Innenministerium zur Verfügung stellt, ernüchtert: Zwar können Einwohner und Einwohnerinnen sowie Unternehmen in einigen Bundesländer schon mehr Leistungen nutzen, bundesweit verfügbar sind bisher erst 119 von 575. Und das scheint noch Schönfärberei vonseiten des Ministeriums: Der Nationale Normenkontrollrat attestierte in seinem Jahresbericht 2022, dass gerade einmal 33 von 575 Verwaltungsleistungen flächendeckend und nutzerfreundlich zur Verfügung stehen. Dazu gehören Behördenkontakte wie einen Taxischein zu beantragen, der Waffenschein, Schwerbehindertenausweis, die Mutterschutzmeldung und für Studierende das Bafög.

Der digitale Ausweis bildet den Überbau

Dafür hakt es bei einem zentralen Thema: der digitalen Version des Personalausweises, die letztendlich für viele der kleineren Behördenaufgaben notwendig ist, um online die Echtheit einer Person zu bestätigen. Kurz vor der Bundestagswahl 2021 wurde dafür eine Smartphone-Applikation namens „ID Wallet“ veröffentlicht.

Diese App sollte als Grundlage für die Identifikation dienen und damit zum Beispiel den digitalen Führerschein auf dem Smartphone erlauben. Doch ebenso schnell, wie die Wallet in den Appstores war, war sie auch wieder verschwunden. Ein Super-Gau für den damaligen Kanzleramtsminister Helge Braun, in dessen Verantwortung das Projekt lag. Die Ampel arbeitet an einem Nachfolger, zuständig ist Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). Ergebnisse lassen auf sich warten. Ein Sprecher des Ministeriums sagte unserer Redaktion, die Umsetzung sei eine Dauer- und Querschnittsaufgabe, die Politik und Verwaltung von Bund, Ländern und Kommunen langfristig beschäftigen werde. Hindernisse seien „komplexe föderale Strukturen, unterschiedliche Digitalisierungsstände und die Heterogenität der IT-Landschaft von Bund, Länder und Kommunen“.

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Digitalisierung: Auch in den Regierungsfraktionen ist man nicht zufrieden

In dieser Woche gipfelte das Chaos dann in einem Acht-Punkte-Papier der Länder an den obersten IT-Beauftragten des Bundes, Markus Richter. Aus Kreisen des Bundesministeriums heißt es abwehrend, auch bei den Ländern lägen einige Onlineleistungen noch im Argen. Das Papier sei der Versuch, die Verantwortlichkeit an den Bund abzudrücken. Grundsätzlich hört man aus den Ländern, dass die Prozesse und Gespräch gut liefen. Der Bund stelle nur das Thema Sicherheit so stark in den Mittelpunkt, dass die Nutzerfreundlichkeit verloren ginge.

Judith Gerlach (CSU) ist die bayerische Digitalministerin.
Judith Gerlach (CSU) ist die bayerische Digitalministerin. © Anne Hufnagl | Anne Hufnagl

Die Innen- und Digitalpolitikerin Misbah Khan (Grüne) sagte unserer Redaktion: „Grundsätzlich können wir mit dem Stand der Digitalisierung nicht zufrieden sein.“ Es brauche eine Digitalisierung der Verwaltung, die den Menschen, seine Bedürfnisse und Rechte in den Mittelpunkt stellt. „Das erreichen wir durch vertrauenswürdige Technik, offene Standards und klare Verantwortlichkeiten.“ Khan fordert mehr Druck bei der Umsetzung durch einen Rechtsanspruch.

Kritischer urteilt die bayerische Digitalministerin Judith Gerlach (CSU): „Wir verlieren in Deutschland den Anschluss auf dramatische Weise und verspielen das Vertrauen der Menschen in die Leistungsfähigkeit des Staates.“ Viele Dienstleistungen, wie das Unternehmenskonto, funktionierten in den Ländern gut. Der Bund müsse das Rad nicht neu erfinden.