Possad-Pokrowske. Die Bewohner im ukrainischen Dorf Possad-Pokrowske leben in Ruinen und geben die Hoffnung nicht auf – auch dank Hilfe aus Deutschland.

Es ist wie ein Wunder. In den Wänden und der Tür der kleinen Kirche klaffen zahllose Löcher von den scharfkantigen, schweren Schrapnellen. Die Wand des Taufraums ist zertrümmert. Aber die Ikonen in dem dunklen, gewölbten Innenraum sind verschont geblieben. Vater Viktor Vasilyevich Kravchuk steht vor einem der Heiligenbilder, staunend, als könne er es noch immer nicht glauben, dass sein Gotteshaus nicht wie so viele andere Gebäude in Possad-Pokrowske völlig zerstört wurde, als der Krieg sein kleines Dorf in Schutt und Asche legte.

„Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit empfangen“, sagt er, sein Atem wird zu einer weißen Wolke. In dieser dunklen Zeit ist an diesem kalten Dezembertag ein wenig Hoffnung zu den Menschen in die Siedlung im Süden der Ukraine gekommen. Ein Hilfstransport, mitfinanziert von der Funke-Mediengruppe, zu der auch diese Zeitung gehört.

Ukraine-Krieg: Hunderte Geschosse schlagen täglich in Possad-Pokrowske ein

Possad-Pokrowske ist ein Straßendorf zwischen Cherson und Mykolajiw. Etwa 2400 Menschen lebten hier vor dem Beginn der russischen Invasion links und rechts der M14, viele von ihnen in einfachen, einstöckigen und gartenumsäumten Häusern, die sich in der kargen Steppenlandschaft verlieren. Im März verschanzen sich russischen Truppen auf einer östlich gelegenen Anhöhe, sie nutzen ein offenes Kanalsystem, um ihre Panzer und Haubitzen zu schützen.

Im Dorf beziehen ukrainische Soldaten ihre Positionen. Dann beginnt ein monatelanger Kampf. Hunderte Geschosse schlagen täglich in Possad-Pokrowske ein. In den ersten Wochen harren viele der Einwohner in Kellern aus, dann fliehen die meisten. Zwischen 30 und 40 bleiben, nicht alle überleben. 15 Tote beklagt das Dorf.

Possad-Pokrowske bei Cherson: Der Prister der Gemeinde, Vater Viktor Vasilyevich Kravchuk, und seine Frau Ana vor der zerstörten Dorfkirche.
Possad-Pokrowske bei Cherson: Der Prister der Gemeinde, Vater Viktor Vasilyevich Kravchuk, und seine Frau Ana vor der zerstörten Dorfkirche. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Possad-Pokrowske: Ein lebensfeindlicher Ort – doch manche kehren zurück

Im November ziehen sich die russischen Streitkräfte zurück. In Possad-Pokrowske bleiben Ruinen. Die Schule, der Kindergarten, das große Kulturzentrum, die drei Tankstellen, die Speiseöl-Fabrik, fast alle Häuser sind zerstört. Wenige Wochen später besuchen wir das Dorf zum ersten Mal. Es gibt keinen Strom, kein fließendes Wasser, kein Gas, aus den Gefechten sind viele Blindgänger zurückgeblieben. Possad-Pokrowske ist ein lebensfeindlicher Ort, und doch sind manche der Einwohner zurückgekehrt.

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An der kleinen hellblauen Kirche vor dem Friedhof treffen wir bei unserem ersten Besuch Vater Viktor, er begutachtet die Schäden an dem unscheinbaren Gotteshaus, dessen Zwiebelturm nicht vergoldet ist wie anderen, reicheren Dörfern. Der Priester ist ein kräftiger Mann, 61, er trägt das Haar lang und hat einen Rauschbart, so wie es unter orthodoxen Geistlichen üblich ist. Über seine Arbeitskleidung hat er eine Flecktarnjacke angezogen. Vater Viktor ist seit fast drei Jahrzehnten der Geistliche von Possad-Pokrowske. In den vergangenen Jahren war seine Kirche nicht sonderlich gut besucht, zu den Gottesdiensten kamen meist nicht mehr als dreißig der Dorfbewohner.

„Wer im Keller saß, hat zu Gott gebetet.“

Der Krieg hat seinen Glauben auf die Probe gestellt, erzählt der Priester. „Aber dann, Gott sei Dank, wurde mir klar, dass der Herr uns nicht mehr Sorgen bereitet, als wir ertragen können.“ Er sagt auch, die Dorfbewohner hätten um göttliche Hilfe gefleht, als die ersten Geschosse in Possad-Pokrowske einschlugen. „Sie haben mir gesagt, dass sie zu Gott beteten, wenn es schreckliche Explosionen gab. Wer im Keller saß, hat zu Gott gebetet.“ Mitte März flieht Vater Viktor mit den meisten anderen Bewohnern ins gut 500 Kilometer weiter nordwestlich gelegene Winnyzia.

Diejenigen, die trotz der Kämpfe all die Monate im Dorf geblieben sind, erzählen von den Schrecken, von den Entbehrungen, von den Toten. Sie berichten auch von einem jungen Mann, der sie all die Monate versorgt hat, der immer wieder die gut 220 Kilometer nach Odessa gefahren ist, um dort Lebensmittel, Medikamente und andere Hilfsgüter für sie zu organisieren: Oleh Dolholutskyi. Wir treffen ihn am Haus seiner Mutter Olga. Er repariert mit Freunden das zerstörte Dach. Dolholutskyi ist 38, hat stahlblaue Augen, trägt eine Baseballkappe.

Olga Dolgolutskyi und ihr Sohn Oleh in dem Raum, in dem sie leben. Oleh ist optimistisch: „Ich glaube, dass hier etwas wiederhergestellt werden kann, und es möglich ist, es noch besser zu machen, als es war.“
Olga Dolgolutskyi und ihr Sohn Oleh in dem Raum, in dem sie leben. Oleh ist optimistisch: „Ich glaube, dass hier etwas wiederhergestellt werden kann, und es möglich ist, es noch besser zu machen, als es war.“ © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Während der Kämpfe hielten keine Hilfsorganisationen im Ort

Er ist kein Mann großer Worte. Im April, erzählt er, sei er ins Dorf zurückgekommen, um dort eine Tasche mit Dokumenten und Bargeld zu holen, die er bei der Flucht vergessen hatte. „Ich habe gesehen, dass Leute geblieben sind, und ich wollte ihnen helfen.“ Hilfsorganisationen steuern das Dorf während der Kämpfe nicht an, es ist einfach zu gefährlich. Also fährt Dolholutskyi, bringt seinen Leuten immer wieder, was sie zum Überleben brauchen. Sein Auto steht neben seinem Haus auf der anderen Straßenseite, es ist voller Einschusslöcher, die Windschutzscheibe ist zertrümmert.

Wir sind tief beeindruckt von seinem Mut und vom Durchhaltewillen der Bevölkerung und versprechen, wiederzukommen, das Dorf zu unterstützen, Hilfsgüter zu bringen. Dolholutskyi lächelt müde. Er kennt die Versprechen.

Überleben im Winter: Eine norwegische Hilfsorganisation hilft mit

Zurück in Deutschland beginnt eine Hilfsaktion, an der Menschen aus verschiedenen Ländern beteiligt sind. Die Caritas Flüchtlingshilfe in Essen und der dortige Stadtverband der Caritas stellen 15.000 Euro zur Verfügung. Julia Becker, die Aufsichtsratsvorsitzende der Funke Mediengruppe, stockt den Betrag um 40.000 Euro auf.

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Ein Geschäftsmann im Irak empfiehlt einen befreundeten Geschäftsmann in der moldawischen Hauptstadt Chisinau, der günstig Generatoren, Batterien, Powerbanks, Solarleuchten und Kettensägen organisieren kann. Das Team Humanity, eine norwegische Hilfsorganisation, die seit dem Kriegsbeginn in der Ukraine Menschen aus den umkämpften Regionen holt und in die Republik Moldau bringt, erklärt sich bereit, einen Ambulanzwagen für den Transport der Hilfsgüter zur Verfügung zu stellen. Ein ukrainischer Journalist organisiert in Odessa Lebensmittelpakete.

Einwohner von Possad-Pokrowske mit Hilfsgütern in der Kirche.
Einwohner von Possad-Pokrowske mit Hilfsgütern in der Kirche. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Transport mit Hilfsgütern wird an der Grenze gestoppt

Am 16. Dezember steht der Transport am moldawisch-ukrainischen Grenzübergang Palanca. Es ist zehn Uhr nachts. Ein ukrainischer Zollbeamter moniert ein fehlendes Papier, die Dorfbewohner hätten ein Schreiben schicken müssen, in dem sie Hilfe anfordern. „Ich kann Sie nicht durchlassen“, sagt er bestimmt und erklärt, in den vergangenen Wochen seien immer wieder angebliche Hilfsgüter auf dem Schwarzmarkt in der Ukraine aufgetaucht. Deswegen brauche es das Schreiben. Das Dorf ist zerstört, es gibt dort keinen Strom, wie also sollen die Leute einen Brief verfassen, noch dazu um diese Uhrzeit? „Ich habe meine Befehle“, sagt der Beamte entschuldigend.

Stunden zäher Verhandlungen und ergebnisloser Telefonate verstreichen. Um vier Uhr morgens sagen wir dem Mann, wenn die ukrainischen Behörden nicht wollten, dass wir Hilfsgüter an Bedürftige in der Ukraine verteilten, dann sollten sie es selbst tun, und fangen an, den Ambulanzwagen zu entladen. Als sich die Hilfsgüter am Grenzübergang stapeln, bricht Hektik aus. Wenige Minuten später bekommen wir grünes Licht für die Weiterfahrt.

Possad-Pokrowske: Ein Bautrupp soll die Bewohner unterstützen

In Odessa, der Hafenstadt am Schwarzen Meer, stößt ein weiterer Transport dazu, gefüllt mit Treibstoff für die Generatoren und mit Lebensmittelpaketen. Am frühen Nachmittag des 17. Dezember ist Possad-Pokrowske erreicht. Vor der kleinen Dorfkirche steht Vater Viktor inmitten einer Menschenmenge. Oleh Dolholutskyi hat den anderen Dorfbewohnern gesagt, sie sollten sich dort für die Verteilung einfinden. Er strahlt, als der Ambulanzwagen vorfährt.

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Unter den Wartenden ist Victoria Kyrilenko, 45. Sie ist dick eingemummelt, wie die anderen hier, es ist bitterkalt geworden. „Wir sind vor einem Monat zurückgekommen“, erzählt sie, und dass der Alltag im Dorf schwierig sei, so zerstört wie es ist. „Wir versuchen in den Ruinen aufzuräumen, können aber nur arbeiten, bis es dunkel wird. Dann sitzen wir bei Kerzenlicht und heizen unseren Ofen mit dem Holz aus den Trümmern. Auf dem Ofen kochen wir auch.“

Demnächst soll ein Bautrupp ins Dorf kommen, um die Bewohner unterstützen, hat Kyrilenko gehört. „Wir bereiten uns jetzt darauf vor, diese Menschen morgens und nachmittags mit Essen zu versorgen. Wir sammeln Geschirr ein und säubern Räumlichkeiten, in denen sie sich ausruhen können.“

Familie aus Posad-Pokrovske.
Familie aus Posad-Pokrovske. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

„Ich glaube, dass hier etwas wiederhergestellt werden kann“

Die Verteilung beginnt, es ist etwas chaotisch, vor den Transportern drängeln sich die Menschen. Manchen treibt die Furcht um, nichts abzubekommen. Dolholutskyi ist das unangenehm, er schimpft mit seinen Leuten. Zusammen mit Salam Aldeen, dem Leiter des Team Humanity, schafft er es aber, die Hilfsgüter so zu verteilen, dass nahezu alle zufrieden sind.

Als es bereits dunkel geworden ist, sitzt Oleh Dolholutskyi in der Küche eines Freundes. Draußen brummelt ein Generator, auf dem Herd brodelt ein Topf mit Borschtsch. Der 38-Jährige wirkt jetzt entspannter. Nach einem Wodka sagt er: „Ich habe auch darüber nachgedacht, nach Odessa zu gehen und dort zu bleiben.“ Irgendetwas halte ihn davon ab. „Ich glaube, dass hier etwas wiederhergestellt werden kann, und es möglich ist, es noch besser zu machen, als es war.“ Der heutige Tag sei ein Signal der Hoffnung für ihn und die anderen Dorfbewohner.

Die Verteilung beginnt, wird es kurz etwas chaotisch, vor den Transportern drängeln sich die Menschen. Am Ende werden die Hilfsgüter so verteilt, dass nahezu alle zufrieden sind.
Die Verteilung beginnt, wird es kurz etwas chaotisch, vor den Transportern drängeln sich die Menschen. Am Ende werden die Hilfsgüter so verteilt, dass nahezu alle zufrieden sind. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Mit Solarleuchten sollen die dunklen Straßen erhellt werden

Dolholutskyi hat Pläne. Er will mit den anderen Bewohnern und einem der gelieferten großen Generatoren die Wasserversorgung wieder in Ganz setzen. Die kleineren Generatoren werden so verteilt, dass sie für die Menschen gut erreichbar sind, um dort ihre Powerbanks aufzuladen. Mit den Solarleuchten sollen die dunklen Straßen erhellt werden. Vielleicht, sinniert er, werden sie auch das Neue Jahr und am 6. Januar Weihnachten feiern. „Wir haben noch einen Weihnachtsbaum. Er hat überlebt, obwohl rund um ihn Granaten eingeschlagen sind.“

Eine Woche später schickt Dolholutskyi ein Video, in dem eine der leuchtenden Solarlampen zu sehen ist. Das Dorf ist ein bisschen heller geworden.

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