Berlin. Die Ampel-Koalition regiert bald seit einem Jahr. Eine exklusive Umfrage zeigt: Die Bevölkerung erkennt kein Profil der Regierung.

Seit bald einem Jahr regieren SPD, Grüne und FDP gemeinsam. Kanzler Olaf Scholz (SPD) und seine Mitstreiter kündigten damals eine „Fortschrittskoalition“ an, Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) nannte den Koalitionsvertrag ein „Dokument des Mutes und der Zuversicht“. FDP-Chef Christian Lindner sah den Auftrag des Bündnisses darin, das Land zu modernisieren. Die Euphorie des Anfangs ist verflogen, in der Bevölkerung wird die Ampel-Koalition kritisch gesehen.

Scholz’ Koalition macht die Bevölkerung ratlos

Im Auftrag unserer Redaktion fragte das Meinungsforschungsinstitut Civey die Bürgerinnen und Bürger nach ihrem Bild von der Koalition. Ein starkes Profil konnte die Regierung seit ihrem Amtsantritt am 8. Dezember demnach aus Sicht der Bevölkerung nicht entwickeln. Auf die Frage, mit welchen Werten und Eigenschaften sie die Bundesregierung am ehesten verbinden, sagten jeweils 18 Prozent mit sozialer Gerechtigkeit beziehungsweise mit der Gleichberechtigung der Geschlechter. 15 Prozent der Befragten entschieden sich unter den vorgegebenen Antwortmöglichkeiten für Nachhaltigkeit und Klimaschutz.

Zwölf Prozent nannten Freiheit, neun Prozent verbinden die Koalition mit Sicherheit. Allerdings: Knapp die Hälfte der Befragten verbindet die Regierung gar nicht mit besonderen Werten oder Eigenschaften.

Im Osten Deutschlands ist dieses Gefühl deutlich stärker vertreten als im Westen: In den neuen Bundesländern beantworteten 60 Prozent der Teilnehmer, die Frage „Mit welchen Werten / Eigenschaften verbinden Sie die Bundesregierung am ehesten?“ mit „weiß nicht“ beziehungsweise „mit keinen“. Im Westen lag dieser Anteil bei 45 Prozent.

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Sogar unter den Anhängern der FDP sind 46 Prozent der Befragten dieser Meinung. Die Anhänger von SPD und Grünen sehen die Regierung deutlich positiver: Unter ihnen sagen nur jeweils knapp ein Viertel, dass sie mit der Koalition keine bestimmten Eigenschaften verbinden.

Rückblick: Ein Jahr Krise

Der drohende Angriff Russlands auf die Ukraine überschattete die Arbeit der Koalition seit dem ersten Tag. Der Krieg und seine Folgen warfen bereits vor Beginn des tatsächlichen Überfalls am 24. Februar seine Schatten voraus. Aufgrund der zu dem Zeitpunkt bereits stark gestiegenen Preise für Sprit und Energie beschloss die Koalition am Vorabend des Kriegsbeginns das erste Entlastungspaket. Seitdem befand sich die Regierung im ständigen Krisenmodus.

Die Energiekrise beschäftigt die Regierung von Kanzler Olaf Scholz seit Monaten.
Die Energiekrise beschäftigt die Regierung von Kanzler Olaf Scholz seit Monaten. © dpa | Karl-Josef Hildenbrand

Ob Energiepreise, Entlastungen, Waffenlieferungen an die Ukraine oder die Sicherheit der deutschen Strom- und Gasversorgung, die Regierung war mit einem Megathema nach dem anderen beschäftigt. In Vergessenheit geriet darüber schnell der erste große Konflikt der Koalition über die Einführung einer allgemeinen Corona-Impfpflicht – die von der FDP gegen den ausdrücklichen Willen von Kanzler Scholz verhindert wurde. Gerade die Frage, wie die Bürgerinnen und Bürgern von den hohen Energiepreisen entlasten werden können, stellte die Koalition immer wieder vor technische Probleme.

Schmerzhafte Entscheidungen

Alle drei Regierungsparteien mussten infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine Entscheidungen treffen, die ohne einen Krieg in Europa so wohl nicht gefallen wären. Angesichts gestoppter Gaslieferungen aus Russland schluckten die Grünen die Reaktivierung von Kohlekraftwerken und machten – wenn auch widerwillig – bei der Verlängerung der Laufzeiten der letzten drei deutschen Atomkraftwerke mit. Die FDP war mit dem Versprechen finanzieller Stabilität angetreten, nun ist ihr Parteichef Lindner als Finanzminister dafür zuständig, Krisenkosten aus Sondervermögen außerhalb des regulären Haushalts zu stemmen.

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Teile der SPD mussten ihre früheren Einstellungen zu Russland einem harten Realitätscheck unterziehen. Nicht immer führte das zu einem Umdenken, siehe Ex-Kanzler Gerhard Schröder. In der Frage der Lieferung auch schwerer Waffen an die Ukraine taten sich einige Sozialdemokraten schwer, Kanzler Scholz wurde in dem Zusammenhang mehrfach als zu zögerlich kritisiert – auch aus den Reihen von FDP und Grünen. Bemerkenswert ist aber: Trotz der schweren Entscheidungen für jede der drei Ampel-Partner blieb es in den Parteien bisher ruhig. Am schwierigsten ist die Stimmung in der FDP, die bei allen vier Landtagswahlen seit der Regierungsbeteiligung im Bund schlecht abschnitt.

Der Kanzler und seine Regierungsmannschaft

Klare Aussagen, eine bessere Erläuterung seiner Politik wünschten sich vom Bundeskanzler auch Mitglieder der Regierungsparteien. Von FDP und Grünen bekam Scholz diese Forderung öffentlich vorgetragen, aber auch aus der SPD ist dieser Wunsch abseits angeschalteter Mikrofone immer mal wieder zu hören. Scholz scheint sich diesem Bedürfnis zumindest punktuell bewusst zu sein und findet dann Umschreibungen wie „Doppelwumms“ für sein Handeln.

Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) zählt zu den umstrittenen Kabinettsmitgliedern.
Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) zählt zu den umstrittenen Kabinettsmitgliedern. © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

Die Opposition äußert immer wieder Zweifel daran, ob Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) ihrer Aufgabe gewachsen ist. Auch der als Corona-Experte ins Amt gekommene Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) wird kritisch gesehen. An eine Kabinettsumbildung denkt Scholz bisher jedoch nicht. Hartnäckig hält sich jedoch das Gerücht, dass Innenministerin Nancy Faeser 2023 als SPD-Spitzenkandidatin bei der hessischen Landtagswahl antreten könnte. Einziger Abgang aus dem Kabinett bisher: die vom Amt der Familienministerin offenbar überforderte Anne Spiegel (Grüne).