Berlin. Brennstäbe alt, Leistung schwach: Das AKW in Niedersachsen kann nur noch Reststrommengen produzieren – Experten verstehen Scholz nicht.

Die Entscheidung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), das Atomkraftwerk Emsland nun doch bis Mitte April 2023 am Netz zu lassen, stößt in Niedersachsen auf Unverständnis. Ministerpräsident Stephan Weil und Umweltminister Olaf Lies – beide SPD – hatten immer wieder betont, dass es aus niedersächsischer Sicht nicht notwendig sei, das AKW bei Lingen über das Jahresende hinaus in Betrieb zu lassen. Das hatte auch der Stresstest des Bundeswirtschaftsministeriums ergeben.

Umweltminister Lies hob hervor, dass „das AKW Emsland keinen wirklichen Beitrag“ zur Lösung der aktuellen Herausforderungen leisten werde. Im Norden gebe es keinen Bedarf. Zudem seien die Brennstäbe schon jetzt so gut wie aufgebraucht, und die Leistung des AKW werde heruntergefahren.

AKW-Sprecher: Reaktor kann nur noch Reststrommengen produzieren

Selbst wenn die vorhandenen Stäbe neu konfiguriert würden, könnte das Atomkraftwerk laut Lies nur eine begrenzte Leistung erbringen. Auch ein Sprecher des AKW Emsland hatte hervorgehoben, dass die Brennstäbe eigentlich aufgebraucht seien und das Atomkraftwerk nur noch Reststrommengen produzieren könnte. Für mehr Leistung wären demnach neue Brennstäbe notwendig.

Kritik kam auch vom Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) in Niedersachsen. „Was auf den ersten Blick als beherzte Aktion zur Rettung in der Energiekrise wirkt, ist bei genauerem Hinsehen ein unverantwortliches Risikospiel mit offenem Ausgang und verschwindend geringem Einfluss auf den Strommarkt“, rügte die BUND-Landesvorsitzende Susanne Gerstner.

BUND warnt vor Sicherheitsrisiken

Die längere Laufzeit des AKW in Lingen führe kaum zu einer besseren Stromversorgung führe. „Im besten Fall kann das AKW 0,03 Prozent des Jahresenergieverbrauchs erzeugen“, unterstrich Gerstner.

Der BUND sieht zudem Sicherheitsrisiken und bemängelt, dass die Sicherheitsüberprüfung, bei der die AKW in der Regel alle zehn Jahre über viele Monate intensiv untersucht werden, überfällig sei. Die eigentlich für 2019 anstehende Prüfung wurde mit Blick auf den zunächst vorgesehenen Abschalttermin am 31. Dezember 2022 ausgesetzt.

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck von den Grünen hatte ursprünglich argumentiert, dass vor allem in Süddeutschland Risiken für die Netzstabilität bestünden. Wegen fehlender Ökostrom-Kapazitäten und -Leitungen sollten die beiden süddeutschen Atomkraftwerke Isar 2 und Neckarwestheim 2 bis zum 15. April in Reserve gehalten und bei Bedarf weiter für die Stromerzeugung genutzt werden.

Habeck: Norden wegen Windstrom-Kapazitäten weniger auf Atomkraft angewiesen

Dies treffe insbesondere auf Bayern zu, so Habeck. Zusätzlicher Risikofaktor: der Ausfall französischer Kernreaktoren. Für das AKW Emsland gelte diese Mangellage nicht, vor allem wegen höherer Windstrom-Kapazitäten im Norden, betonte der Wirtschaftsminister.

Atomkraftwerke erzeugten im zweiten Quartal 2022 amtlichen Angaben zufolge sechs Prozent (im ganzen Jahr 2021 waren es rund 13 Prozent) des Stroms in Deutschland. Der Anteil der Gaskraftwerke war vor dem Ukraine-Krieg gut doppelt so hoch. Weil diese häufig neben Strom auch Heizwärme für Haushalte und Industrie erzeugen, können sie aber nicht ohne Weiteres durch AKW ersetzt werden.

Zudem sind Atomkraftwerke nur schwer regelbar und daher für eine flexible Kombination mit Wind- oder Solarstrom ungeeignet. Eigentlich längst fällige Sicherheitsüberprüfungen der AKW sind mit Blick auf deren Ende 2022 erwartete Abschaltung nicht mehr erfolgt.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.