Washington. Die Lebenserwartung ist in den USA zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit massiv gesunken. Corona ist dabei nicht der einzige Grund.

Was den wohl wichtigsten Maßstab für Lebensqualität und Wohlergehen angeht, muss sich die reichste Supermacht der Erde ein Armutszeugnis ausstellen lassen. In den Vereinigten Staaten von Amerika ist die Lebenserwartung im vergangenen Jahr zum zweiten Mal binnen kurzer Zeit massiv gesunken. Ein Faktor, aber nicht der einzige: Corona.

Nach den Statistiken der Nationalen Gesundheitsbehörde CDC haben Babys, die 2021 zur Welt kamen, nur noch eine Lebensperspektive von 76 Jahren. 2019, zwei Jahre zuvor und damit vor Ausbruch des Corona-Pandemie, waren es im Schnitt rund 79 Jahre.

Lebenserwartung in den USA sinkt: Was sind die Gründe?

Um einen ähnlichen Absturz zu finden, muss man auf der Zeitachse weit zurückgehen. In den Weltkriegsjahren 1942/1943 fiel die Lebenserwartung in Amerika ebenfalls um knapp drei Jahre. Nach Einschätzung von Steven Woolf, Direktor des Statistikzentrums, ist der Rückgang der stärkste seit fast 25 Jahren - und ein Sonderfall unter vergleichbaren Industrie-Nationen. Dort konnten Corona-bedingte Rückschritte zuletzt meistens gedrosselt werden.

Zum Vergleich: In England liegt die durchschnittliche Lebenserwartung aktuell bei 80,4 Jahren. Deutschland (80,1), Frankreich (82,3), Kanada (82,3), Schweiz (83,1), Norwegen (83,3) und Spitzenreiter Japan (84,7 Jahre) rangieren ebenfalls weit vor Amerika. Schlusslicht ist die zentralafrikanische Republik mit 54 Jahren.

USA: Lebenserwartung bei der indigenen Bevölkerung liegt jetzt bei 65

Am dramatischsten sind die Zahlen in den USA bei den Nachfahren der indianischen Ureinwohner. Sie sind überdurchschnittlich häufig von Arbeitslosigkeit, Armut, Diabetes, Alkoholsucht und miserabler Gesundheitsversorgung betroffen.

Die Lebenserwartung bei der indigenen Bevölkerung liegt jetzt bei 65 Jahren. Das ist in etwa der Stand für alle Amerikaner gegen Ende des Zweiten Weltkrieges.

Bei der stetig wachsenden Latino-Bevölkerung ist ein Rückgang bei der Lebenserwartung von 82 auf 78 Jahre zu beobachten. Afro-Amerikaner leben mit durchschnittlich 71,5 Jahren seit Ausbruch der Corona-Pandemie rund drei Jahre weniger. Dagegen ist die mit Abstand höchste Lebenserwartung - rund 83,5 Jahre - bei Amerikanern mit asiatischen Wurzeln während der Pandemie nahezu unverändert geblieben.

Mississippi ist Schlusslicht, Hawaii ist Spitze

Geografisch fällt auf, dass viele republikanisch regierte Bundesstaaten im Süden und Mittleren Westen schlecht abschneiden. So rangieren Tennessee, Kentucky, Alabama, Louisiana, Arkansas, Missouri, Ohio und Oklahoma unter den 50 Gliedstaaten auf den hinteren Plätzen.

Mississippi, auch in anderen wichtigen Kategorien wie Säuglingssterblichkeit Schlusslicht, hält mit durchschnittlich 71,9 Jahren Lebenserwartung die rote Laterne. Hier werden Männer statistisch gesehen nur 68,6 Jahre alt.

Hawaii dagegen rangiert mit einer Lebenserwartung von 80,7 Jahren landesweit an der Spitze. Frauen der Inselgruppe werden im Schnitt sogar 83,8 Jahre alt.

Corona ist für die Hälfte des Rückgangs verantwortlich

Nach Untersuchungen der CDC-Experten geht etwa die Hälfte der Rückgangs bei der Lebensperspektive auf das Konto der Corona-Pandemie. Obwohl die USA nur 4,25 Prozent der Weltbevölkerung stellen, verzeichnen sie mit bisher mit weit über einer Million Menschen über 14 Prozent der weltweiten Corona-Toten.

Dass Corona weiter ein Treiber für zurückgehende Lebenserwartung in den USA bleiben wird, ist aus Forscher-Sicht wahrscheinlich. Obwohl das Land federführend bei der Entwicklung der Impfstoffe war, ist - auch aufgrund anfänglich massiver Irreführung der Regierung von Donald Trump - die Impfqupote bei Erwachsenen mit 67 Prozent auch unter Präsident Joe Biden nach wie vor mittelprächtig. Nur 33 Prozent der Amerikaner sind bisher ein Mal „geboostert”

40 Prozent der erwachsenen Amerikaner sind fettleibig

Aber Corona allein erklärt nicht die Misere in einem Land, das jährlich mit rund 4000 Milliarden Dollar (knapp 17 Prozent des Brutto-Sozialprodukts) weltweit mit weitem Abstand das meiste Geld in ein vergleichsweise uneffizientes und überteuertes Gesundheitssystem steckt, in dem zig Millionen Menschen nach wie vor überhaupt keine Absicherung für den Krankheitsfall haben. Auch interessant: Altersforscherin: Das ist die Formel für ein langes Leben

Drogen, Herz-Kreislauf- und chronische Nierenerkrankungen spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. 40 Prozent der erwachsenen Amerikaner sind zudem fettleibig; nicht zu verwechseln mit übergewichtig. Ein Merkmal, das laut Ärzten höhere Mortalitätsraten erklärt. Und: 2021 stieg die Zahl der tödlichen Überdosierungen (Heroin, Fentanyl etc.) auf rekordverdächtige 108.000 Fälle.

Überdosierung von Drohen und hoher Alkoholkonsum

Darauf hatte der Nobelpreisträger Angus Deaton bereits vor Jahren hingewiesen. Der Ökonom ermittelte unter dem Begriff „Deaths of Despair“ (Tode der Verzweiflung), dass insbesondere unter schlecht gebildeten Weißen in Bundesstaaten, die zu den Globalisierungsverlierern zählen, ein wachsende Zahl von Suiziden, von Drogen-Überdosierungen und Alkoholismus samt Folgeerkrankungen (Leber etc.) zu verzeichnen ist. In diesen Kategorien hat es der Bundesstaat West-Virginia zu trauriger Berühmtheit gebracht.

Randnotiz: Suizide sind in der Altersklasse der 10- bis 34-Jährigen die zweithäufigste Todesursache. Dabei werden ganz überwiegend Schusswaffen eingesetzt, deren Verkauf in den ersten beiden Corona-Jahren exorbitant gestiegen ist. Mittlerweile werden bei einer Bevölkerung von 340 Millionen Amerikanern über 400 Millionen Waffen in Privatbesitz vermutet.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.