Berlin. Foodwatch-Chef Chris Methmann ist alarmiert über die hohe Inflation. Diese könne sich negativ auf die Ernährung von Kindern auswirken.

Die Inflation treibt die Lebensmittelpreise hoch. Die Verbraucherschutzorganisation Foodwatch befürchtet, dass dies bei vielen zu Lasten einer gesunden Ernährung gehen könnte. Auch das neue staatliche Tierschutzlabel bringe keine Verbesserung für die Gesundheit der Tiere. Warum die Politik in allen Ernährungsfragen viel entschiedener für die Bevölkerung handeln müsste, sagt der Geschäftsführer Chris Methmann im Gespräch mit unserer Redaktion.

Die Lebensmittelpreise steigen. Wie wirkt sich die hohe Inflation auf die Ernährung der Bevölkerung aus?

Chris Methmann: Wir haben schon heute viele Menschen, die nicht genug Geld haben, um sich gesund zu ernähren. Mit den steigenden Preisen wird sich die Lage verschärfen. Das heißt nicht, dass große Teile der Gesellschaft Hunger leiden. Vielmehr breitet sich versteckter Hunger aus. Die Menschen müssen auf günstige Lebensmittel zurückgreifen, die sie vielleicht satt machen, die sie aber nicht gesund ernähren. Das führt zu Nährstoffmangel – ein Riesenproblem.

Ist auch bei Kindern Mangelernährung zu befürchten?

Methmann: Vor allem Kinder aus einkommensschwachen und armen Haushalten sind heute oft schlecht ernährt. Das wirkt sich massiv auf ihre Entwicklung aus, weil sie mit deutlich schlechteren Bedingungen ins Leben starten. Unter den 1,6 Millionen Tafel-Kunden sind schon 30 Prozent Kinder. Nicht nur bei Rentnern reicht das Geld oft nicht aus, sondern auch bei vielen Familien.

Was muss getan werden, damit sich alle auch in der Krise gut ernähren können?

Methmann: Ein kleiner Schritt, der aber sofort und einfach umsetzbar wäre, wäre, die Mehrwertsteuer auf Obst und Gemüse zu streichen. Dies würde auch die EU genehmigen und wäre machbar. Aufgrund des großen Wettbewerbs im Lebensmittelmarkt würden die Preissenkungen von Supermärkten und Discountern auch an die Kunden weitergegeben werden – anders als bei den Tankstellen, die ein Kartell bilden. Dies würde Familien entlasten und den Anreiz setzen, sich gesund zu ernähren.

Bioläden verlieren infolge der Inflation bereits viele Kunden. Kann man sich konventionell auch gesund ernähren?

Methmann: Ja – genau, wie man sich mit Bio-Lebensmitteln auch ungesund ernähren kann. Bio-Produkte schmecken vielleicht besser und wurden auch umweltfreundlicher produziert. Bio hat aber mit Gesundheit direkt nichts zu tun. Bei Pestizidrückständen gibt es sogar bei einigen Discountern heute so strenge Kontrollen, dass die Produkte vergleichbar sind.

Der Foodwatch-Chef Chris Methmann hat in Hamburg Politik studiert und zur internationalen Klimapolitik promoviert. Der 41-Jährige leitet seit November 2021 die Verbraucherorganisation Foodwatch Deutschland. Zuvor war er bei Attac und als Kampagnenleiter bei dem Verein Campact aktiv. Methmann ist Vater von zwei Kindern und lebt in Berlin.
Der Foodwatch-Chef Chris Methmann hat in Hamburg Politik studiert und zur internationalen Klimapolitik promoviert. Der 41-Jährige leitet seit November 2021 die Verbraucherorganisation Foodwatch Deutschland. Zuvor war er bei Attac und als Kampagnenleiter bei dem Verein Campact aktiv. Methmann ist Vater von zwei Kindern und lebt in Berlin. © Funke Foto Service | Reto Klar

Wie wichtig ist Bio-Qualität?

Methmann: Biologische Landwirtschaft müsste eigentlich der Standard für alle Lebensmittel werden. Dies wird aber nicht über Appelle, doch bitte mehr Bio zu kaufen, passieren. Hierfür braucht es eine politische Regulierung. Wichtig ist, dass sich Bio nicht nur die Bildungsbürger leisten können.

Die Bundesregierung will Kinder besser vor Werbung schützen, die besonders zucker-, salz- und fettreichreiche Lebensmittel anpreisen. Was sollte geschehen?

Methmann: Wir brauchen ein gesetzliches Verbot von Werbung für ungesunde Lebensmittel an Kinder. Denn viele Kinder kommen - an den Eltern vorbei - über soziale Medien und Fernsehen mit den Werbebotschaften in Kontakt. Oft denken wir dabei nur an die Verpackung, auf der eine Comic-Figur abgebildet ist. Doch das ist eher die Welt, in der wir Älteren aufgewachsen sind. Heute findet die Werbung auf YouTube, Instagram, Tik-Tok und anderen sozialen Medien statt. Dort werden Influencer und Influencerinnen von Konzernen gewonnen, die Produkte anpreisen. Dies wirkt dann so, als ob einem der beste Freund oder die beste Freundin ein Produkt empfiehlt. Nach dem Motto, probiere mal diese richtig leckere Pizza oder den Kuchen von Dr. Oetker. Diese Werbung wirkt viel perfider. Da sind wir Eltern machtlos.

Was schlagen Sie konkret vor?

Methmann: Es braucht eine Werbepause für ungesunde Produkte im Fernsehen, Online und in allen sozialen Medien von 6 bis 23 Uhr. Das sollte nicht nur für Kinderprodukte gelten. Auch wenn ein Kind die Fußball-WM schaut und an der Bande die Coca-Cola-Werbung sieht, wird es davon beeinflusst. Hier muss Herr Özdemir endlich liefern. Angeblich soll bis Jahresende ein Gesetzentwurf vorgelegt werden.

Wie soll die Werbefreiheit auf Social-Media-Kanälen funktionieren?

Methmann: Es gibt 2 Arten von Werbung: So schaltet YouTube vor Videoclips immer eine Werbung. Clips für Ungesundes könnten verboten werden. Andererseits schließen Influencer Werbeverträge mit Konzernen ab und berichten auf ihren Kanälen, wie toll deren Produkte sind. Viele richten sich an Jugendliche. Auf beiden Wegen könnten man dies gesetzlich regeln.

Vor welchen Lebensmitteln müssen Kinder besonders geschützt werden?

Methmann: Ein Werbeverbot sollte sich an den Nährwertprofilen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) oder dem Nutri-Score orientieren. Im Fokus steht der Gehalt von Zucker, Salz und Fetten. So könnten die Werbung für Produkte der Kategorie A des Nutri-Scores zugelassen werden, aber jene mit anderen verboten werden. Das gilt auch für Bioprodukte. Denn es gibt Produkte wie Frühstücksflocken, wo auch im Bioladen die gesamte Produktpalette zu süß ist. Das kenne ich von meinen eigenen Kinder. Sie mögen alles, was süß ist - am liebsten Crunchy-Müsli. Die Eltern freuen sich dann, dass ihr Kind Müsli isst, doch in diesen Müslis stecken oft 15 Prozent Zucker - auch bei Bio-Ware.

Wann kommt der Nutri-Score?

Methmann: Das ist in Europa noch umstritten. Der Nutri-Score wäre eine Revolution. Dann könnte man endlich auf dem Produkt anhand einer Farbskala erkennen, ob ein Produkt gesund ist oder nicht.

Unternehmen werben zunehmend mit Klimaneutralität. Wie seriös ist dies?

Methmann: Klimaneutralität bei Lebensmitteln zu versprechen, ist meistens eine Klimalüge. Es ist vor allem ein Marketinginstrument. Seit den Protesten von Fridays for Future wird auch bei Familien am Abendbrottisch über die Klimakrise diskutiert – und plötzlich stehen dort immer mehr „klimafreundliche“ Produkte. Hähnchenfilets oder Milch werden als klimaneutral angepriesen, obwohl wir alle wissen, dass die Fleischproduktion das Klima schädigt. Die Klimaneutralität wird damit begründet, dass beispielsweise Waldprojekte unterstützt werden. Doch damit kaufen sich Hersteller nur heraus, statt die Produktion, den Transport oder die Energieerzeugung für das Produkt komplett umzustellen.

Tiere sollen mehr Platz in den Ställen bekommen. Doch das reicht nicht, damit sie gesünder werden, sagt Foodwatch-Chef Methmann.
Tiere sollen mehr Platz in den Ställen bekommen. Doch das reicht nicht, damit sie gesünder werden, sagt Foodwatch-Chef Methmann. © dpa | Marijan Murat

Derzeit ist ein staatliches Tierschutzkennzeichen in Arbeit. Welche positiven Effekte ergeben sich für Verbraucher?

Methmann: Das Tierschutzkennzeichen bringt für das Wohl der Tiere kaum Verbesserung. Das Label funktioniert wie ein Zaubertrick. Ich muss etwas machen, wo alle hinschauen – und dann kann ich im Verborgenen den eigentlichen Trick machen. Mit dem Label wird der Blick auf die Unterschiede in der Haltungsform gerichtet, also zum Beispiel wie groß der Stall ist. Doch wir schauen nicht hin, wie es eigentlich den Tieren geht. Das ist das großes Problem. Denn die Haltungsbedingungen allein haben wenig Einfluss darauf, wie gesund die Tiere sind.

Was bedeutet das konkret?

Methmann: Eine aktuelle Studie in der Schweiz zeigt, dass 97 Prozent aller Legehennen ein gebrochenes Brustbein haben – auch die Bio-Haltung ist betroffen. Das liegt daran, dass die Tiere auf Hochleistung getrimmt sind. Das Kalzium, das sie aufnehmen, geht in die Eierproduktion, doch die Knochen gehen leer aus. Diese Tiere kann man auch in einen wunderschönen großen Stall stellen, doch ihr Problem wird dadurch nicht gelöst: Die Tiere sind krank und es geht ihnen schlecht.

Sie sehen also keinerlei Verbesserungen für die Tiere?

Methmann: Nein. Weiteres Beispiel: In einer Studie hatten 50 Prozent der Milchkühe von Bio-Betrieben Euterentzündungen gezeigt. Das kann zum Beispiel daran liegen, dass eine Melkanlage nicht richtig desinfiziert ist. Auch dies hat nichts mit dem Stall zu tun. Aber wir werden jetzt durch das Label auf den Stall getrimmt. Das ist eine Verbrauchertäuschung. In dem Label steckt zudem auch eine gewisse Politikverweigerung. Der Gesetzgeber könnte selbst Tierschutz betreiben, in dem er die unteren Haltungsstufen verbietet, da Tiere dort in erbärmlichen Bedingungen leben.

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Was muss also grundlegendverändern?

Methmann: Unser System ist auf Hochleistung getrimmt. Wir wollen möglichst viele Tiere, zu möglichst geringen Kosten halten, um möglichst viele Lebensmittel herzustellen. Das ist nicht zukunftsfähig, wenn man will, dass es den Tieren besser gehen soll. Wir brauchen weniger, dafür aber gesunde Tiere. Wir sollten grundsätzlich weniger Fleisch und nicht für den Export produzieren. Tierschutz ist ein Staatsziel.

Welches ist ein Schlüssel dafür?

Methmann: Wir sollten weniger dafür sorgen, dass es dem Stall gut geht, sondern dass es dem Tier gut geht. Das ist das Ziel. Regelmäßig wird der Zustand von Schlachttieren untersucht und festgehalten. Kontrolleure könnten darüber prüfen, in welchen Betrieben es den Tieren gut geht und in welchen nicht – und dann entsprechend handeln und auffällige Betriebe schließen.

In Lebensmitteln werden regelmäßig Verunreinigungen festgestellt. Mal sind es Plastikteile, mal Salmonellen. Wie oft landet Mineralöl in Nahrungsmitteln – und was kann dagegen getan werden?

Methmann: Foodwatch hat bei Stichproben schon in Babymilch, Nutella oder Knorr Brühwürfel Mineralöl festgestellt und auf das Problem aufmerksam gemacht. Manches kam über Maschinen in die Lebensmittel oder auch über das Trocknen von Nüssen auf Asphalt. Die EU legt jetzt erstmals Grenzwerte für Mineralöl fest, was für uns ein Riesenerfolg ist. Die Politik müsste über ihre Behörden die Verbraucher viel besser über Verunreinigungen aufklären. Die App Lebensmittelwarnung.de reicht da nicht.

Welche Ziele haben Sie sich als neuer Foodwatch-Chef vorgenommen?

Methmann: Wir streiten schon jetzt für gesunden und ehrlichen Lebensmittel und richten nun verstärkt den Blick auf zukunftsfähige Lebensmittel. Viele Verbraucher wollen Nahrungsmittel kaufen, die die Grenzen unseres Planeten achten und nicht maßlos überschreiten. Es darf aber nicht allein die Aufgabe der Verbraucher sein, diese Entscheidung zu treffen, sondern die Politik muss Regeln schaffen, die gesamte Wertschöpfungskette zukunftsfähiger zu machen – von der Landwirtschaft bis zum Einkaufskorb.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.