Berlin. Das militärische Debakel Russlands in der Ostukraine setzt den Kreml unter Druck. Wie groß ist die Gefahr für Präsident Wladimir Putin?

Er gilt als „Bluthund“ des russischen Präsidenten Wladimir Putin, doch nun geht Tschetschenen-Führer Ramsan Kadyrow auf Distanz zum Kreml: Im Nordosten der Ukraine habe die russische Armee Fehler gemacht, die militärische Strategie müsse umgehend korrigiert werden, fordert Kadyrow. Wenn es nicht „heute oder morgen“ Änderungen an der Strategie gebe, „muss ich mit der Führung im Verteidigungsministerium und der Regierung sprechen, um ihnen die tatsächliche Situation vor Ort zu verdeutlichen“, schimpft der Präsident der russischen Teilrepublik Tschetschenien im sozialen Netzwerk-Kanal Telegram.

Die Soldaten seien nicht ausreichend vorbereitet worden, sagt Kadyrow und zählt vorwurfsvoll Namen jener Orte auf, die das russische Militär in den vergangenen Tagen in der Region Charkiw im Nordosten der Ukraine teils fluchtartig verlassen hatte.

Ukraine: Putin hat allen Grund, alarmiert zu sein

Kadyrow nennt Putin bei seiner Anklage nicht beim Namen, doch der Kreml-Herrscher hat allen Grund, alarmiert zu sein. Der Tschetschenen-Führer galt bisher als Vertrauter des Präsidenten. Nun ist Kadyrow der erste ranghohe Politiker in Russland, der sich offen mit Kritik am Kriegsverlauf zu Wort meldet – und Zweifel äußert, dass die Führung im Kreml die Lage überhaupt realistisch einschätzen kann.

Die Stimmung in Russland wird gereizter, die schweren Niederlagen an der Ukraine-Front haben die bisherige Propaganda von der erfolgreichen „Spezialoperation“ als Lüge entlarvt. Noch ist ein Sturz Putins nicht in Sicht, aber der Präsident gilt nicht mehr als unantastbar. Beginnt seine Macht langsam zu bröckeln?

Abgeordnete in St. Petersburg fordern Anklage gegen Putin wegen Hochverrats

Am weitesten gingen Kommunalpolitiker in St. Petersburg und Moskau. Der Rat des Petersburger Stadtbezirks Smolninskoje, wo Putin aufgewachsen ist, beschloss vor wenigen Tagen einen Appell ans russische Parlament, Putin wegen „Hochverrats“ anzuklagen. Das soll die Quittung für sein Vorgehen seit Beginn des Ukraine-Kriegs sein.

An der Abstimmung beteiligten sich nur sieben von 20 Bezirksabgeordneten, die Putin ergebenen Vertreter der Kreml-Partei „Einiges Russland“ boykottierten die Sitzung. Gegen fünf der kritischen Abgeordneten ermitteln die Behörden inzwischen unter dem Vorwand, sie hätten die russischen Streitkräfte diskreditiert.

Dass die Staatsduma in Moskau dem Appell folgt, erwarten die Initiatoren selbstverständlich nicht. Ihnen geht es um ein Signal an kritische Bürgerinnen und Bürger, die mit Putins Kriegs-Kurs nicht einverstanden sind: „Ihr seid nicht allein“, wie es die Abgeordneten ausdrücken. Im Moskauer Stadtbezirk Lomonosovsky forderten Bezirkspolitiker den Rücktritt Putins, weil er sein Land mit aggressiver Rhetorik in die Ära des Kalten Kriegs zurückgeführt habe.

Noch sind es einzelne Politiker, die sich öffentlich so klar gegen Putin positionieren. Ein massiver Meinungsumschwung im Land ist bisher nicht erkennbar: Bei den Regionalwahlen am Wochenende fuhren die Kandidaten des Kreml deutliche Siege ein, alle 14 amtierenden Gouverneure wurden bestätigt, die Kreml-Partei „Einiges Russland“ erzielte in den meisten Regionalparlamenten die Mehrheit.

Ein ukrainischer Soldat geht an einem russischen Panzer vorbei, der bei einem Gefecht in einem gerade befreiten Gebiet auf der Straße nach Balakliia in der Region Charkiw zerstört wurde.
Ein ukrainischer Soldat geht an einem russischen Panzer vorbei, der bei einem Gefecht in einem gerade befreiten Gebiet auf der Straße nach Balakliia in der Region Charkiw zerstört wurde. © dpa | Uncredited

Der Nationalist Girkin warnt vor Niederlage Russlands

Aber die Regierung ist erkennbar verunsichert: Das Verteidigungsministerium musste seine Darstellung des eiligen Rückzugs aus der Region Charkiw ändern, nachdem auf Internet-Seiten eine Flut wütender Kommentare eingegangen war: Aus der „organisierten Verlegung“ und „Umgruppierung“ der Truppen, um den „Donbass zu befreien“ wurde das leise Eingeständnis eines Rückzugs.

Unter Druck steht nun besonders Verteidigungsminister Sergei Schoigu. Militärblogger und andere prorussische und nationalistische Autoren, die den Krieg befürworten, gehen mit der militärischen Führung öffentlich scharf ins Gericht. Angeprangert werden massive Ausrüstungsmängel – von fehlenden Huberschraubern bis zum Mangel an Schutzwesten - , einige Blogger verlangen sogar die Verhaftung der Kommandeure, die den Rückzug der russischen Truppen veranlasst haben, und Strafen wegen Hochverrats.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Der Nationalist Girkin warnt vor Niederlage Russlands

Der rechtsextreme Nationalist Igor Girkin warnt, Russland stehe eine vollständige Niederlage bevor, es sei nur noch eine Frage der Zeit. Über allem steht der Vorwurf, die russische Regierung – und das staatliche Fernsehen - wolle den Bürgerinnen und Bürgern die Lage verheimlichen.

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Nationalistische Stimmen ziehen daraus ihre eigenen Schlüsse und verlangen von Putin nun als Konsequenz einen härteren Kurs: Dazu gehört eine Generalmobilmachung, die der Präsident bisher ablehnt. Der Blogger Roman Romanow plädiert auch schon für Angriffe mit kleineren Atomraketen auf den Westen der Ukraine. Vier oder fünf taktische Atomwaffen würden genügen, um die Kapitulation der Regierung in Kiew zu erzwingen.

Außenminister Lawrow betont Willen zu Verhandlungen

Solche Äußerungen zeigen, dass Putin nach dem Verständnis seiner Anhänger genügend Optionen hat, das Blatt zu wenden. Auch in westlichen Hauptstädten wird nicht ausgeschlossen, dass der Kreml-Herrscher zum Einsatz von Atomwaffen greifen könnte, wenn er anders eine Niederlage nicht verhindern kann.

Außenminister Sergej Lawrow bringt einen anderen Weg ins Spiel: Russland sei bereit, mit der Ukraine über einen Waffenstillstand zu verhandeln, bekräftigte Lawrow. Die Verhandlungen würden allerdings umso schwieriger, je länger sie hinausgeschoben würden. Der Außenminister adressierte diese Mahnung an die ukrainische Regierung in Kiew, doch kann sie ebenso als Hinweis an Putin verstanden werden.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.