Eine Langzeitstudie zur Wirkung von Hartz-IV Sanktionen bestätigt die Sozialverbände. Strafen sind kein Anreiz. Sie verunsichern nur.

Wer Hartz IV kassiert, aber Regeln missachtet, muss mit Kürzungen rechnen. Zehn Prozent weniger Geld, wenn sie oder er ohne wichtigen Grund einen Termin beim Jobcenter versäumt; gar 30 Prozent, wenn ein zumutbarer Job abgebrochen wird. Solche Strafen sollten motivieren, sich für eine Beschäftigung anzustrengen; andersherum: davor abschrecken, sich aufzugeben. Eine politische Fehlkakulation. Die Kürzungen haben "keinen besonderen Effekt" auf die Motivation, wie eine am Montag in Berlin vorgestellte Langzeitstudie zeigt. Drei Punkte fallen besonders auf:

  • Die Allianz vom Verein "Sanktionsfrei", der die Studie in Auftrag gab, mit dem Paritätischen Wohlfahrtsverband und dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW).
  • Das Timing, Hartz IV soll durch ein Bürgergeld ersetzt werden. An den Sanktionen, bis Juni 2023 ausgesetzt, hält der Bund indes fest.
  • Die drohende Verarmung in der aktuellen Krise. Die Organisationen fordern eine Reform der Grundsicherung, vor allem höhere Sätze.

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DIW-Präsident Marcel Fratzscher mahnt Verlässlichkeit gerade in Krisenzeiten an. Die Leistungen für die Grundsicherung seien zu gering ob der Preissteigerungen, bei Lebensmitteln von fast 20 Prozent. Durch Sanktionen sind die Leistungen für viele Menschen "nicht verlässlich.“

Bürgergeld statt Hartz IV: Aber weiter mit Sanktionen?

Der Regelsatz beim Bürgergeld soll nach den Plänen von Sozialminister Hubertus Heil (SPD) gegenüber Hartz-IV um 50 auf 500 Euro steigen. Es sind "Armutssätze" in den Augen von Ulrich Schneider, Chef des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Von einem echten Bürgergeld könne nur gesprochen werden, wenn Sanktionen abgeschafft würden, meint er.

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Die Studie zeigt laut Helena Steinhaus von "Sanktionsfrei" , dass die Betroffenen den Kontakt mit den Jobcentern größtenteils als hinderlich, statt als unterstützend empfinden. Sanktionen verfehlten ihre Wirkung. Sie verursachten meist eine Kultur des Misstrauens. Die Menschen fühlten sich eingeschüchtert, stigmatisiert. "Sanktionen bringen Menschen nicht in Arbeit und haben in einer modernen Grundsicherung nichts verloren."

Zwischen Januar 2019 und bis 2022 hat das Institut für empirische Sozial- und Wirtschaftsforschung Berlin (INES) 585 Betroffene befragt. Sie wurden in zwei Gruppen unterteilt. Eine davon war gegen Sanktionen quasi versichert: "Sanktionsfrei" garantierte, Kürzungen auszugleichen.

Hartz IV: Sanktionen belasten, aber keine Motivation

Im Ergebnis zeigten sich zwischen beiden Gruppen keine statistisch signifikanten Unterschiede. Ob Sanktionen ausgeglichen werden, sei irrelevant. Das heißt aber auch: Sanktionen wirken nicht als Motivation. Sie "lähmen" vielmehr. Die Menschen wünschten sich, ihr Leben freier, ohne Existenzängste gestalten zu können. Frei vom Druck des Jobcenters.

Sanktionen sind offenbar vor allem ein zusätzlicher Stressfaktor und Stimmungskiller. Generell fühlten sich die Hilfsempfänger "weniger sozial integriert" und schätzten ihre psychische Verfassung schlechter als Personen ein, die nicht auf Hartz IV angewiesen sind. Sanktionen und ihre Androhung könnten schwerwiegende psychosoziale Folgen nach sich ziehen, lautet nach Darstellung von "Sanktionsfrei" ein Studienergebnis.

Für einen Teil der Befragten war die Chance auf eine Integration im ersten Arbeitsmarkt – mit oder auch ohne Strafen – nicht realisierbar. Die Gründe: Zu lange erwerbslos, Erkrankung, keine gute Qualifikation, kaum auf ihre Probleme orientierte Beratung oder Qualifizierungsangebote.

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2019 hatte das Bundesverfassungsgericht Sanktionen teilweise für grundgesetzwidrig erklärt. Sie seien ein schwerwiegender Eingriff in die Persönlichkeitsrechte und nur gerechtfertigt, wenn sie nachweislich eine positive Wirkung auf das Arbeitsverhalten der Betroffenen hätten, so die Lesart der drei Organisationen. Laut Hochrechnungen der Bundesagentur für Arbeit lebten im Juli 2022 rund 5,6 Millionen Personen in Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften, unter ihnen auch rund 1,75 Millionen Kinder.

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