Berlin. Amerikanische Ureinwohner verdienen diese Häme nicht. Und Frauen in Afghanistan nicht die Ignoranz. Über Achtsamkeit und Sprache.

Derzeit wird ja die ganz große Keule geschwungen bei Themen wie Gendern und kulturelle Aneignung. Es gibt wahrlich dringendere Probleme als Sternchen im Wort und verletzte Gefühle amerikanischer Ureinwohner. Zum Beispiel dieser fiese Angriffskrieg, den Russland in der Ukraine führt, der in eine globale Ernährungskatastrophe führt. In eine schwere Energiekrise. Wir werden frieren im Winter! Da kann es doch nicht wahr sein, dass ein Verlag nichts Besseres zu tun hat, als Winnetou vom Markt zu nehmen.

Winnetou übrigens bedeutet mir viel. Ich war als Kind jeden Sommer bei den Karl-May-Festspielen in Elspe, das liegt im Sauerland. Ein Großonkel von mir wohnte da und hatte immer eine kleine Nebenrolle. Es war Pierre Brice, der die Hauptrolle spielte, zumindest solange ich noch nach Elspe fuhr.

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Ich war ungeheuer stolz, dass ich ihn nicht nur vom Fernsehen kannte, sondern dass sich der Staub, den er beim Galopp über die Szenerie aufwirbelte, in meinen Augen festsetzte; schließlich saß ich dank meines Großonkels immer in der ersten Reihe.

Durch Winnetou lernte ich die großen Themen Liebe und Tod kennen

Ich lernte damals, dass Glas aus Zucker sein kann und dann bei einer Cowboy-Schlägerei keinen Schaden anrichtet, wenn ein Stuntman durchfliegt. Ich wusste, dass die Knallerei aus den tatsächlich rauchenden Colts nur aus Platzpatronen bestand, die allerdings viel lauter waren als die Acht-Schuss-Munitionsringe aus rotem Plastik, mit der ich meinen Spielzeugcolt befüllte.

Dank Winnetou lernte ich die großen Themen der Literatur kennen, Liebe und Tod, Freundschaft und Verrat, Krieg und Frieden. Und dass wahre Helden Grenzen des Hasses überwinden.

Pierre Brice in seiner Paraderolle als Winnetou.
Pierre Brice in seiner Paraderolle als Winnetou. © dpa | Horst Ossinger

Was ich nicht lernte: Dass die eingewanderten Europäer über Jahrhunderte den Ureinwohnern Land raubten, sie vertrieben, sie töteten. Dass die Ureinwohner an Krankheiten starben, die aus Europa eingeschleppt wurden.

Woundet Knee – von dem Massaker hatte ich nie gehört

Ich wusste nichts vom Blutbad von Wounded Knee im Jahr 1890: Damals endete eine dieser Vertreibungen mit dem Tod von 300 Sioux. Heute bewerten Historiker das Massaker als Ende eines jahrhundertelangen Genozids. Und ich wusste auch nicht, dass es Indianer gar nicht gibt, sondern Stämme, die so unterschiedlich sind wie Italiener und Schweden.

Kolumbus hat sich schlicht geirrt, als er Amerika entdeckte und dachte, es sei Indien. Deshalb nannte er die Ureinwohner so. Insofern kann ich verstehen, dass heroisierende Winnetou-Geschichten bei amerikanischen Ureinwohnern Unbehagen auslösen. Überlagern sie doch das Grauen der Realität mit fiktionalem Kitsch.

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Da jetzt in den sozialen Medien so für diesen Kitsch gekämpft wird – und zwar so platt-dumm-ironisch („Vertont die Winnetou-Filme neu und sagt nur noch Indianer*innen“), ohne sich auch nur ansatzweise mit dem Genozid an den Ureinwohnern auseinanderzusetzen, verliere ich meine ursprüngliche Haltung (lasst doch Winnetou in Ruhe) und gerate in eine Habtachtstellung, in der ich den Protagonisten Winnetou schützen möchte – und zwar vor der Polemik rund um seine Figur, die seine Ideale, dem Streben nach Versöhnung, mit den Füßen tritt.

Kolumnistin Birgitta Stauber schreibt über Frauen, Familie und Gesellschaft.
Kolumnistin Birgitta Stauber schreibt über Frauen, Familie und Gesellschaft. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Und weil die Winnetou-Debatte mit dem Streit ums richtige Gendern so plump verknüpft wird: Ich brauche auch kein Sternchen und kein Binnen-I. Aber ich brauche Achtsamkeit an der Stelle, wenn das generische Maskulinum nicht ausreicht. Wenn es Wirklichkeit verzerrt.

Geht es um Wirklichkeit, fällt mir Afghanistan ein. Das große Elend, ausgelöst durch den nahezu kompletten Abzug der Frauen aus dem öffentlichen Leben. Oberschulen, Unis, Geschäfte, Büros: fest in Männerhand. Wie wir damit umgehen?

Taliban: Frauen in Afghanistan müssen wieder Burka tragen

Wenn ich mir die Berichte und Social-Media-Beiträge ansehe, würde ich sagen: aus den Augen, aus dem Sinn. Statt die Lage der Frauen als Ursache für die große Krise anzusehen, wird sie als ein Teilaspekt betrachtet. Aber, ganz ehrlich, wenn man die Hälfte der Bevölkerung einer Volkswirtschaft entzieht, wie soll sie da nicht zusammenbrechen?

All die Frauen, die nach dem Abzug der Nato den Taliban ausgeliefert sind, entrechtet zu Hause hocken: Sicher denken sie nicht über das richtige Gendern nach. Aber würden sie es tun, würden sich Feuilletons afghanischer Zeitungen damit beschäftigen, hätten sie sonst keine Sorgen. Meine Güte, was wäre das für ein Erfolg.

Dieser Text erschien zuerst auf morgenpost.de

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