Berlin. Immer mehr Jugendliche beenden die Schule mit Top-Zeugnissen. Wie gemein, das mit Noteninflation abzutun, findet unsere Kolumnistin.

Mir klopft das Herz, so rege ich mich auf. Ich bin da ganz Helikoptermutter. Wenn meine Kinder Abitur machen, dann sollen sie die Note bekommen, die sie verdienen. Und weil ich ohnehin meine Kinder, meine Nichten und Neffen, ihre Freundinnen und Freunde, diese ganze wunderbare Generation, immer und immer bis aufs Blut verteidige, ist es natürlich eine gute.

Tatsächlich habe ich, wenn ich mich so umschaue, ganz schön häufig Grund, zu gratulieren. Wie, du hast Abi? Und dann noch so ein Gutes? Toll!

Eine Menge Leute sehen das allerdings ganz anders, deswegen meine Rage. Wie kann das sein, fragt der pensionierte Geschichtslehrer in meiner Verwandtschaft und auch der konservative Boomer-Freund (sein Abitur war ein Drama und dauerte viele Jahre), dass seit Jahren die Noten immer besser werden?

Abitur mit Note 1,0: Sieben Mal in einem Gymnasium in Wermelskirchen

Wie kann es sein, dass in einem Jahrgang gleich mehrere Schülerinnen und Schüler ihren Abschluss mit der Traumnote 1,0 hinlegen? In einem Gymnasium in Wermelskirchen etwa waren es sieben. Alle Regionalzeitungen in Nordrhein-Westfalen berichteten darüber.

Birgitta Stauber schreibt über Frauen, Familie und Gesellschaft.
Birgitta Stauber schreibt über Frauen, Familie und Gesellschaft. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Irgendwas muss da doch faul sein, mutmaßt sogar der Philologenverband in Nordrhein-Westfalen. Noteninflation, heißt der Kampfbegriff, in den inzwischen auch der Bundesverband der Gymnasiallehrer einstimmt. Was für ein tiefes Misstrauen gegenüber dem System, das doch die Mitglieder des Verbandes repräsentieren. Ich fasse die Vorbehalte mal so in Worte:

  • Schule wird immer schlechter
  • früher war alles schwerer
  • wir haben noch richtig lernen müssen
  • denen wird doch das Abitur hinterhergeschmissen
  • kein Wunder, die hatten ja in der Pandemie monatelang keine Schule, da haben alle ein Auge zugedrückt.

Ich sehe das ganz anders. Wie wäre es damit: Während der Pandemie haben eine Menge Jugendliche in völliger Eigenverantwortung ihre Schullaufbahn in die Hand genommen. Sie haben geforscht, Ausarbeitungen fertiggestellt, immer wieder die Matheaufgaben geübt, unzählige Vokabeln gelernt, Seiten über Seiten Klausuren geschrieben. Und nicht zuletzt schlicht auswendig gelernt: Für Bio, für Geschichte, sogar für Musik.

Gleichzeitig konnten sie von vielen Lehrkräften auf ein tolles Feedback hoffen. Ich unterstelle mal: Je mehr gute Noten eine Schule feiert, desto besser hat das Kollegium die Schülerinnen und Schüler vorbereitet.

Motivation mit viel Empathie und selbst gebackenen Kuchen

Mit Kolloquien kurz vor den Prüfungen etwa. Mit der Bereitschaft, bei Fragen per Mail oder Telefon ansprechbar zu sein. Mit Tipps, viel Empathie und manchmal auch einem selbst gebackenen Kuchen zur Stärkung bei der Leistungskursklausur.

Im Vergleich dazu habe ich meine Oberstufenzeit als lieblos in Erinnerung. Und wenn wir gut waren, dann gab es mal eine Zwei minus. Motivation war da eher Fehlanzeige.

Gute Noten machen eine gute Schule

Vielleicht ist Schule einfach besser geworden. Nicht immer, aber immer öfter. Womöglich ist es einfach ein Zeichen für Qualität, wenn es viele gute Schülerinnen und Schüler gibt. Schließlich haben die Länder, die in Vergleichsstudien wie Pisa oder Vera immer wieder gut abschneiden, auch besonders viele gute Abiturientinnen und Abiturienten.

Umgekehrt schneiden nirgendwo so viele Jugendliche schlecht bei den Abschlussprüfungen ab wie in Bremen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein, den Pisa-Schlusslichtern. Ohne Witz: In Thüringen lagen die Durchschnittsnoten 2021 bei 2,0, in Schleswig-Holstein bei 2,4. Vor diesem Hintergrund ist „Noteninflation“ ein Kampfbegriff von den Schlechtmachern und Spaßbremsen meiner Generation.

Schulabschluss: Hohe Durchfallquoten sind nichts Gutes

Aber halt: natürlich ist nicht alles gut. Es gibt einen Haufen Jugendliche, die bleiben auf der Strecke. In Bremen, dem Pisa-Sorgenkind, rasselten im vergangenen Jahr 4,6 Prozent durchs Abi. Im Pisa-Streber-Land Thüringen „nur“ 1,7. Zweifelt da noch jemand am Zusammenhang von guten Leistungen und gutem Unterricht?

Analysieren wir doch, was die Schulen mit den vielen Einser-Abiturienten besser machen als die mit den vielen Durchfallern. Nehmen wir Wermelskirchen als Blaupause. Und den Begriff „Noteninflation“ verbannen wir schnell in die Mottenkiste der missmutigen Meckerer.

Weitere Frauengold-Kolumnen:

Dieser Artikel ist zuerst auf morgenpost.de erschienen.