Kopenhagen/Berlin. In Dänemark fallen die Corona-Beschränkungen. Das Land wandelt damit auf schwedischen Pfaden – und riskiert viel. Es hat gute Gründe.

"Wie am Meer. Welle auf Welle auf Welle. Dann immer neue Mutationen, gegen die unsere Impfstoffe nicht ausreichend Schutz bieten sollen. Ich habe genug", sagt die 25-jährige Hanna. Die meisten Dänen sehen das so und freuen sich über die gänzliche Abschaffung aller Corona-Restriktionen am Freitag. Covid-19 soll für Dänemark Geschichte werden – und Hanna schmiedet schon Pläne. "Nach Ewigkeiten" machen am Mittwoch die Nachtclubs wieder auf. Ein Impfnachweis muss nicht erbracht werden. "Ich weiß gar nicht, ob ich noch tanzen kann!", scherzt sie.

Dänemark ging vor vielen anderen Ländern im März 2020 in einen strengen Lockdown und öffnete sich als eines der ersten Länder wieder schrittweise seit dem Frühling 2021. Die Maskenpflicht ist schon seit einigen Wochen weg. Dänemarks Schulen waren die ersten in Europa, die wieder öffneten, einmal abgesehen von den schwedischen. Die waren durchgängig offen.

Covid-19 "nicht mehr kritisch"

Dänemarks sozialdemokratischer Gesundheitsminister Magnus Heunicke hat nun befunden, dass Covid-19 "nicht mehr kritisch für die Gesellschaft" sei, vor allem wegen der Impfdisziplin der Dänen. Die Impfquote liegt bei über 70 Prozent. In Deutschland haben nur über 60 Prozent der Menschen eine Corona-Impfung. Zudem hat das Land auf die Impfstoffe von Johnson&Johnson und Astrazeneca verzichtet. Ersterer bietet einen etwas schlechteren Schutz gegen die neuen Virusvarianten. Aber er verhindert zumeist schwere Verläufe, wie Island zeigte.

50.000 der 360.000 Isländer wurden mit Johnson&Johnson geimpft. Bei einer neuen Infektionswelle mit mutierten Viren hatten über 90 Prozent der Angesteckten kaum Symptome. Vor allem junge Menschen hatten sich beim Feiern angesteckt. Doch als die Inzidenz in die Höhe schoss, blieb es ruhig auf den Covid-Stationen, während in der ausländischen Presse Schreckensszenarien über Island verbreitet wurden. Inzwischen hat der Inselstaat die Einschränkungen schon wieder gelockert.

Dänemark macht es jetzt wie Schweden

In Dänemark mit über seinen fünf Millionen Einwohnern stecken sich derzeit rund 600 Menschen am Tag an. Aber zu über 90 Prozent mit geringen oder keinen Symptomen. Wie die Schweden von Anfang an, schauen die Dänen nun lieber auf Todesrate und Krankenhausauslastung, statt auf die Inzidenz. Die Finnen tun es ihnen gleich – das Land erklärte am Dienstag, bis Mitte Oktober sämtliche Einschränkungen fallen lassen zu wollen. Vielleicht sogar schon früher, wie die Regierung andeutete. Auch in Deutschland werden Forderungen lauter, den Blick zur Pandemievermessung auf andere Zahlen als ausschließlich die Sieben-Tage-Inzidenz zu richten.

Dänemark und Finnland schwenken damit auf den in beiden Ländern lange viel kritisierten schwedischen Weg ab. Traditionell blicken beide Länder sehr genau auf Schweden. In vielen Bereichen, militärisch aber auch gesellschaftlich. Im Windschatten des schwedischen Sonderweges sind ihnen nun mehr Öffnung möglich als Deutschland. Schweden beschränkte Restriktionen auf ein freiwilliges Minimum. Schulen blieben offen, Maskenpflicht gab es keine. Die Todesrate war viel höher als in Dänemark. Das aber an der der schwedischen Strategie festzumachen, sei sachlich falsch, so das schwedische Gesundheitsministerium.

Auch der Nothilfechef der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Michael Ryan, hält es für falsch, das Vorgehen Stockholms mit der Anzahl der Toten in den Altenheimen zu verbinden. Länder mit harten Lockdowns hätten ähnliche Probleme gehabt: "So wie viele andere Länder in Europa wurde auch Schweden von einer Ansammlung von Erkrankungen in der Altenpflege getroffen. Das ist tragisch, aber nicht einzigartig." Er fordert eine gründliche Untersuchung.

Deutschland hinkt Skandinavien hinterher

Immerhin: Schwedens Gesundheitssystem war nie überlastet, relativ zur Gesamtbevölkerung gesehen starben weitaus weniger Schweden als Staatsangehörende anderer Nationen mit strengen Corona-Regeln. Schwedens Sieben-Tage-Sterbesrate liegt seit Wochen zumeist unter der Deutschen – auch die Übersterblichkeit liegt weit unter Europas Durchschnitt. Zwar sind Schweden, Finnland und Island viel dünner besiedelt. Vergessen wird aber gerne, dass die Metropolen ungefähr genauso dicht oder dichter bevölkert sind wie in Deutschland.

Nachtclubs in Dänemark dürfen wieder öffnen. Maskenpflicht gibt es keine, die Impfquote ist hoch.
Nachtclubs in Dänemark dürfen wieder öffnen. Maskenpflicht gibt es keine, die Impfquote ist hoch. © Ritzau Scanpix/AP/dpa | Olafur Steinar Gestsson

Besonders weit liegen Deutschlands Werte von denen der skandinavischen Ländern nicht entfernt. Während hierzulande den Zahlen von "Our World in Data" zufolge im Schnitt pro 100.000 Einwohnern wöchentlich 0,43 Menschen an Covid sterben, sind es in Schweden 0,14 Tote. Dänemark liegt leicht über der Bundesrepublik, mit 0,49 Covid-Toten, Finnland hat mit 0,28 Toten eine etwas niedrigere Sterberate.

Bei der Sieben-Tage-Inzidenz zeigt sich ein ähnliches Bild. In Deutschland etwa betrug sie am Freitag 83,8, in Schweden 72,9 und in Dänemark 66,0. Finnland zählt im Schnitt derzeit 65,4 Neuinfektionen pro Woche und Island 76,0. Trauen sich die skandinavischen Länder einfach mehr? Oder handeln ihre Regierungen verantwortungslos?

Öffnungspolitik kann tödliche Folgen haben

Der Epidemiologe Viggo Andreasen von der Universität Roskilde analysierte kürzlich in einem Gespräch mit dem Nachrichtenmagazin "Spiegel", was mit dem Wegfall der Einschränkungen auf die Dänen zukommen könnte. Er und seine Kollegen haben die möglichen Folgen der radikalen Öffnungspolitik ausgerechnet.

Für den kommenden Winter erwarten sie 700.000 Neuinfektionen, die zu etwa 21.000 Krankenhauseinweisungen führen werden. 700 Menschen könnten sterben. Im schlimmsten Fall erreichen die Krankenhäuser knapp zwei Drittel der Auslastung des vergangenen Jahres, meint der Gesundheitsexperte. "Das Problem ist nur, dass diese Situation über Wochen anhalten wird." Dennoch ist auch für den Epidemiologen die Aufhebung aller Beschränkungen der richtige Weg.

Auch der 65-jährige schwedische Staatsepidemiologe Anders Tegnell sieht seine Strategie nicht als gescheitert an. "Es gibt generell sehr wenig Evidenz für Maßnahmen gegen Pandemien. Es wurde oft unterstellt, dass Schwedens Modell noch weniger evidenzbasiert ist als die Lockdown-Modelle. Aber die Wahrheit ist, dass es auch für Effekte von Lockdowns kaum ordentliche, wissenschaftliche Erfahrungen gibt", sagt er.

Zwangsmaßnahmen für die Bevölkerung seien "schwierig". Man müsse auf die gesamte Volksgesundheit schauen, nicht nur auf Corona. "Beispielsweise auf die Selbsttötungsrate, oder auch auf die Folgen, wenn schwer kranke Menschen wegen einem Lockdown nicht zum Arzt gehen. Für Menschen ist es zudem gesundheitlich schädlich, unfreiwillig isoliert zu werden", sagt Tegnell. Tatsächlich scheint Schweden hier besser gefahren zu sein. Die Suizidrate etwa ist im Jahr 2020 laut Statistikamt sogar zurückgegangen.