Brüssel. Das Europaparlament ist weit besser und einflussreicher als sein Ruf. Doch ein starkes Herz hat die europäische Demokratie noch nicht.

Es ist das große Paradox der Europawahl: Fast 80 Prozent der Bürger in Deutschland haben eine positive Meinung von der Europäischen Union und finden es gut, dass die Bundesrepublik EU-Mitglied ist. Aber zur Wahl am Sonntag gehen viele trotzdem nicht, beim letzten Mal gaben nicht einmal die Hälfte der Wahlberechtigten in Deutschland ihre Stimme ab.

Demoskopen wissen, warum: Ein Teil der Bürger hat den Eindruck, mit einer Stimme für ein vermeintlich machtloses EU-Parlament sowieso nichts bewirken zu können.

Doch das ist ein Irrtum: Das EU-Parlament hat erheblich mehr Einfluss als viele glauben. Seine Macht ist kontinuierlich gewachsen, heute kommt in der EU kein Gesetz ohne die Zustimmung der Abgeordneten zustande. Nur sie wählen (und kontrollieren) zudem einen der mächtigsten EU-Politiker, den Präsidenten der Kommission.

Europaparlament spielte entscheidende Rolle bei Urheberrechtsreform

Wie groß die Bedeutung des Parlaments ist, zeigte sich zuletzt im März bei der Abstimmung über die Reform zum Urheberrecht, die nicht nur in Deutschland hohe Wellen schlug. Zunächst hielten die Abgeordneten unter dem Eindruck heftiger Proteste das Gesetzespaket auf, dann hätten sie nach leidenschaftlichem Streit um die Uploadfilter die Reform fast noch gekippt.

Am Ende stimmte eine knappe Mehrheit des Europaparlaments für die umstrittene Urheberrechtsreform, aber nur mit Änderungen – spannender Parlamentarismus pur.

Strengere CO2-Grenzwerte – auch ein Beschluss des EU-Parlaments

Insgesamt beschlossen die Abgeordneten seit 2014 rund 350 Gesetze, in einer Reihe von Fällen drückten sie den Vorschlägen der Kommission ihren Stempel auf. Eine interne Analyse des Parlaments nennt als Erfolge unter anderem die strengeren CO 2 -Grenzwerte für neue Pkw bis 2030: Die Abgeordneten setzten in einer parteiübergreifenden Allianz deutlich schärfere Vorgaben durch als Kommission und Mitgliedstaaten wollten – um 37,5 Prozent soll der Abgasausstoß innerhalb eines Jahrzehnts sinken.

Auch bei den Ausbauzielen für erneuerbare Energien nach 2020 legten die Abgeordneten nach, in die umstrittene Fluggastdatenregelung schrieben sie einen strengen Datenschutz hinein. Sie sorgten außerdem dafür, dass die Mittel für das Erasmusprogramm zur Förderung von Ausbildungsaufenthalten im Ausland massiv erhöht wurden.

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Europaparlament entschied Verbot von Einweg-Plastik

Zu den bedeutenden vom Parlament beschlossenen Gesetzen zählen unter anderem das europaweite Aus für Roaminggebühren beim mobilen Telefonieren, neue Datenschutzregeln, die Entsenderichtlinie, das Verbot von Plastikeinwegartikeln oder die Einrichtung eines milliardenschweren Verteidigungsfonds.

In vielen Fällen gingen teils harte Kompromissverhandlungen mit Diplomaten und Ministern der 28 Mitgliedstaaten voraus – denn gleichberechtigt müssen auch die Regierungen der EU-Länder den Gesetzen zustimmen.

Mitunter verfahren Abgeordnete aber auch im Teppichhändlerstil

Aber die zunehmend selbstbewussten Abgeordneten haben gelernt, sich durchzusetzen. „Bei den Verhandlungen treffen wir schon mal auf Gesprächspartner aus dem Ministerrat, die gar nicht im Film sind. Die lesen nur vom Zettel ab“, erzählt eine deutsche Abgeordnete, die anonym bleiben möchte, um künftige Erfolge nicht zu gefährden.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass das Parlament bei den Gesetzesberatungen mitunter erst mal mehr fordert als realistisch ist – in der Erwartung, dass der EU-Ministerrat hinterher sowieso wieder Abstriche verlangt. Da schleicht sich manchmal ein Teppichhändlerstil ein, der dem Ansehen des Parlaments schadet.

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Gewisses Demokratiedefizit ist nicht zu leugnen

Insgesamt aber ist es keine schlechte Bilanz für die einzige Volksvertretung der Welt, in die zahlreiche Nationen direkt gewählte Abgeordnete entsenden. Mit 751 Mandatsträgern ist das EU-Parlament nur etwas größer als der Bundestag mit seinen 709 Mitgliedern, obwohl fast sechsmal mehr Wahlberechtigte ihre Stimme abgeben können. Um die Dimension zu begrenzen, wird auf ein gleiches Stimmengewicht verzichtet – Abgeordnete aus großen Staaten wie Deutschland vertreten viel mehr Bürger als jene aus kleinen Staaten.

Das gehört zur anderen Seite der Medaille: Das Herz der europäischen Demokratie ist noch etwas schwach. Ein vollwertiges Parlament ist es vor allem wegen des fehlenden gleichen Stimmengewichts nicht, wie das Bundesverfassungsgericht zum Verdruss vieler Mandatsträger geurteilt hat.

Nur die EU-Kommission darf Gesetze anstoßen

Zudem haben die Abgeordneten kein Initiativrecht, mit dem sie selbst Gesetzesvorlagen machen könnten. Auf EU-Ebene ist das der Kommission vorbehalten. Die agiert entsprechend machtbewusst: Unvergessen ist der Auftritt von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vor zwei Jahren, der das Parlament als „total lächerlich“ beschimpfte, nachdem der maltesische Premier Joseph Muscat einen Redeauftritt vor einem fast leeren Plenarsaal absolvieren musste.

Für die Öffentlichkeit schwerer wiegt der eher langweilige Parlamentsalltag: Es fehlt der klassische Gegensatz zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen. Da im Zweifelsfall mindestens die Hälfte der Mitglieder einen Vorschlag mittragen müssen, sind meist breit gefächerte Bündnisse notwendig. Die Abgeordneten agieren dabei nicht nach nationalen Gruppen, sondern nach politischen Fraktionen.

Hälfte der Fraktionen wird von Deutschen geführt

Trotzdem sind die Deutschen ein Machtfaktor im Parlament – mit 96 Abgeordneten stellen sie das größte nationale Kontingent, vier der acht Fraktionen werden von Deutschen geführt. Die Macht der Vorsitzenden ist allerdings begrenzt, sie sind oft mehr Moderatoren als Anführer. Ein Fraktionszwang ist kaum durchsetzbar – zur Freude vieler Abgeordneter.

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