Berlin. Autopräsidentin Müller warnt vor teureren Kleinwagen – und erklärt, warum klimaneutrale Lkws nicht über deutsche Brücken fahren dürfen.

Brüssel zieht die Zügel an: Am Dienstag beschloss das EU-Parlament das Verbrenner-Aus in der EU. Die deutschen Autobauer müssen den Wandel zügig vorantreiben. Am Geld mangelt es nicht, die Autobauer verzeichneten zuletzt Milliardengewinne. Hildegard Müller, Präsidentin des Verbandes der Automobilindustrie (VDA), blickt dennoch sorgenvoll auf ihre Branche. Warum Autos bald teurer werden könnten – und wieso klimaneutrale Lkw nicht über deutsche Brücken fahren dürfen.

Frau Müller, das letzte Jahr war geprägt von Lieferkettenproblemen, der restriktiven Corona-Politik im wichtigen Absatzmarkt China und vor allem durch die Energie- und Rohstoffkrise. Trotzdem vermelden die deutschen Autobauer Milliardengewinne. Wie passt das zusammen?

Hildegard Müller: Die Gewinne werden oftmals außerhalb des Standorts Deutschlands erwirtschaftet. Die Absatzmärkte in Asien erholen sich inzwischen deutlicher als unsere. Wir brauchen die erzielten Gewinne im Übrigen für notwendige Zukunftsinvestitionen: 220 Milliarden Euro für Forschung und Entwicklung bis 2026, nochmal 100 Milliarden bis 2030 in den Umbau von Werken – damit die Transformation hin zur Klimaneutralität gelingt.

Auf der anderen Seite steht eine Krise der Zulieferer. Was läuft falsch?

Müller: Gerade auch die Zulieferer investieren, doch die Sorgen sind derzeit groß. Wir haben aktuell in einer Umfrage erfasst, dass 88 Prozent der mittelständischen Zulieferer den Standort Deutschland im internationalen Vergleich nicht mehr für wettbewerbsfähig halten. So eine Erosion des Vertrauens haben wir noch nie erlebt. Hohe Energiepreise belasten die Unternehmen zum Beispiel genauso wie die immer weiter zunehmende Bürokratie und die hohe Steuer- und Abgabenlast. Hilfen wie die Energiepreisbremsen sind aufgrund komplizierter Antragsstellungen für viele nur schwer zugänglich.

Was schlagen Sie vor, um die Zulieferer durch die Zeit zu bekommen?

Müller: Die Zulieferer, der Mittelstand – das ist der Rückgrat des deutschen Wohlstands, um den es hier geht. Die Branche erfindet sich bereits neu – Autos werden weltweit weiter gefragt sein. Die Frage ist, ob diese Autos noch in Deutschland produziert werden. Die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und Europas gerät im internationalen Vergleich auf den Abstiegsplatz. Berlin und Brüssel müssen die Rahmenbedingungen angehen: Steuern, Abgaben und Umlagen müssen runter. Die Bürokratie muss abgebaut werden und die Energieversorgung sicher und mit bezahlbaren Preisen wieder wettbewerbsfähig werden.

Was ist ein wettbewerbsfähiger Energiepreis?

Müller: In Deutschland sind die Energiekosten bei der Produktion eines Autos mehr als dreimal so hoch wie in den USA. Man könnte die Stromsteuer senken. Den diskutierten Industriestrompreis halte ich für ein zweischneidiges Schwert, aber wir brauchen schnelle Hilfen. Die Politik muss jetzt vor allem ein größeres Angebot schaffen.

Hildegard Müller (55) ist seit Februar 2020 Präsidentin des Verbandes der Automobilindus­trie. Zunächst arbeitete die Ökonomin für die Dresdner Bank. 2002 zog Müller für die CDU in den Bundestag ein, drei Jahre später wurde sie Staatsministerin im Kanzleramt. 2008 wechselte sie zum Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft, 2016 als Netzvorstand zu RWE.
Hildegard Müller (55) ist seit Februar 2020 Präsidentin des Verbandes der Automobilindus­trie. Zunächst arbeitete die Ökonomin für die Dresdner Bank. 2002 zog Müller für die CDU in den Bundestag ein, drei Jahre später wurde sie Staatsministerin im Kanzleramt. 2008 wechselte sie zum Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft, 2016 als Netzvorstand zu RWE. © FUNKE Foto Services | Jörg Krauthöfer

Wie sehr sind die Hersteller und Zulieferer vom Fachkräftemangel betroffen?

Müller: Fakt ist: Alle Branchen kämpfen um eine kleiner werdende Zahl an Fachkräften. Früher war selbstverständlich, dass Deutschland attraktiv für Fachkräfte aus dem Ausland ist. Das ist nicht mehr so. Das Fachkräftezuwanderungsgesetz muss jetzt auf den Weg gebracht werden. Wirtschaft und Politik müssen massiv in Bildung, Weiterbildung und Umschulungen investieren und wir alle müssen neue Arbeitszeitmodelle überlegen. Und auch die duale Ausbildung muss weiter gestärkt werden. Generell braucht es zudem ein Mehr an Praxisnähe in den Hochschulen.

Ziehen Namen wie Mercedes, BMW oder Volkswagen überhaupt noch Leute an?

Müller: Die Autoindustrie hat sich ihren Ruf zurückerkämpft. Die Transformation ist gerade auch für die junge Generation faszinierend und spannend. Die Branche gilt als attraktiv. Aber die Menge an jungen Leuten wird weniger.

Auch die Erhöhung des Renteneintrittsalters wird regelmäßig gefordert, um die Belastungen abzufedern. Was halten Sie davon?

Müller: Persönlich glaube ich, dass wir auf Dauer nicht um eine Erhöhung des Renteneintrittsalters herumkommen werden. Jetzt gilt es aber vor allem mit aller Entschlossenheit, mehr junge Menschen besser zu qualifizieren. Es gibt zu viele Schulabgänger ohne Abschluss – in einem Land wie Deutschland. Das muss sich ändern, das Potenzial genutzt werden.

In den USA trennen sich Tech-Konzerne von Zehntausenden IT-Fachkräften. Diese Fachkräfte könnte auch die deutsche Autoindustrie gut gebrauchen. Warum fällt es den Konzernen hierzulande so schwer, sich die Fachkräfte zu sichern?

Müller: Über Werke, Standorte in den USA aber natürlich auch über Kooperationen treten wir natürlich an solche Arbeitskräfte heran. Unser Ziel ist es, Entwicklungen wie autonomes Fahren hierzulande zu entwickeln. Und natürlich arbeiten wir auch immer daran, als Arbeitgeber noch attraktiver zu werden. Klar ist aber auch: Längst nicht jeder, der im Silicon Valley gearbeitet hat, will nach Deutschland. Wir brauchen an unseren Unis einfach viel mehr Absolventen in diesen Bereichen.

Das EU-Parlament hat gerade das Verbrenneraus für 2035 final besiegelt.

Müller: Die Ziele sind sehr ambitioniert – das müssen sie mit Blick auf den Klimawandel auch sein. Gleichzeitig wird aber vernachlässigt, wie komplex die Transformation ist. Das ist fahrlässig.

Inwiefern?

Müller: In Deutschland muss sich das Tempo beim Ausbau der Ladeinfrastruktur mehr als vervierfachen, um das gesetzte Ziel von einer Million Ladepunkten bis 2030 zu erreichen. In anderen Ländern sieht es noch viel schlimmer aus. Die Stadt Hamburg hat fast doppelt so viele öffentliche Ladepunkte wie Griechenland. Der notwendige Stromnetzausbau hängt den Ansprüchen weit hinterher. Bei den schweren Nutzfahrzeugen wird das nochmal viel offensichtlicher: Ein Lkw-Ladepark an einer Autobahn kann den Strombedarf einer mittleren Kleinstadt benötigen. Dafür braucht es neben dem Netz auch die entsprechende Menge an klimaneutraler Energie. Das alles sind Bringschulden der Politik – und da sieht es derzeit nicht gut aus.

Die EU-Ziele bei den Lkw klingen angesichts der bereits bestehenden Produktpalette wenig ambitioniert.

Müller: Produkte technisch zu entwickeln, ist eine Sache. Die andere ist, Fabriken dafür umzubauen und Genehmigungen dafür zu erhalten. Ein Beispiel: Batterien sind schwerer als Motoren. Nun ist es für das Verkehrsministerium schwierig, besonders lange Lkw ab 44 Tonnen Gewicht zuzulassen. Der Grund: In Deutschland gibt es rund 4000 sanierungsbedürftige Brücken, die durch das hohe Gewicht dann noch mehr gefährdet wären.

Die Ampel-Koalition hat sich dabei gerade bei den Planungsbeschleunigungen verhakt.

Müller: Der Streit darf sich nicht weiter hinziehen, sondern wir brauchen praktische Lösungen. 10 Prozent der Autobahnen sind Baustellen, rund 4000 Brücken müssen repariert werden. Wir haben bei der Bahn und der Straßeninfrastruktur umfassenden Sanierungsbedarf. Und: Straßenbau mit Klima-Argumenten zu verhindern, ist gerade falsch. So verhindern wir die Infrastruktur, die wir brauchen, um die Mobilität CO2-neutral zu gestalten und als Standort für Transformation attraktiv zu sein.

CO2 könnte gespart werden, wenn viele dieser Lastwagenladungen auf der Schiene landen würden...

Müller: Wir unterstützen den bestmöglichen Ausbau der Schiene ausdrücklich. Da gibt es keinen Widerspruch zwischen Auto- und Schienenindustrie. Im Gegenteil: Tatsächlich müssen Unternehmen aber leider immer mehr Logistik von der Schiene auf die Straße zurück holen – die Bahn kann ihre Zusagen oft nicht mehr einhalten. Wir unterstützen alle Bemühungen, dass das in Zukunft wieder anders sein wird.

Könnte Tempo 130 dazu beitragen, Staus zu vermeiden und CO2 einzusparen?

Müller: Schon heute sind 96 Prozent aller Straßen in Deutschland durch Tempolimits reguliert. Auf vielen Autobahnabschnitten kann man nicht mehr als 100 bis 120 km/h fahren. Außerdem zeigte eine IW-Studie zuletzt, dass die Menschen in den vergangenen Monaten ihr Fahrverhalten stark verändert haben - als Reaktion auf den Krieg in der Ukraine und die Energiekrise. Wir schlagen daher digitale Temposteuerungen vor, die je nach Verkehrsdichte und Wetter das Tempo regeln.

Die EU will bei Pkws den Feinstaub-Ausstoß um 35 Prozent reduzieren. Warum erzürnt Sie die Euro-7-Norm derart?

Müller: Wir wollen die Luftqualität weiter verbessern – wir sind auch für eine neue Euro-Norm und haben dafür konstruktive Vorschläge gemacht. Brüssel verliert jedoch Augenmaß, Machbarkeit und Kosten-Nutzen vollkommen aus den Augen. Die Fristen sind realitätsfremd, Werte sollen auch in Extremsituationen wie dem Anfahren am Berg oder beim Kaltstart eingehalten werden. Ein Fokus auf den Normalbetrieb würde höhere Effekte erzielen – daher plädieren wir dafür. Der jetzige Vorschlag würde gerade Kleinwagen in Zukunft nochmals erheblich verteuern.

Die EU spricht von 90 Euro Mehrkosten, das Verkehrsministerium von 400 Euro. Wie viel teurer wird es für Autokäufer tatsächlich?

Müller: Wir erwarten mehrere Hundert Euro – abhängig von Modell und Fahrzeugtyp. Mit 90 Euro ist es definitiv nicht getan.

Die deutschen Autobauer nehmen für sich in Anspruch, Weltmarktführer bei der technologischen Entwicklung zu sein. In diesem Selbstverständnis dürften Sie mit der Regulierung doch keine Probleme haben…

Müller: Geplant ist die weltweit härteste Regulierung für Emissionen. Alle europäischen Autobauer teilen hier die gleiche Sorge. Wir glauben, dass wir die Anforderungen erfüllen können, aber es ist auch immer eine Kosten-Nutzenrechnung. Grundsätzlich braucht es diesen Blick über die europäischen Grenzen hinweg: Die Unternehmen der deutschen Automobilindustrie agieren global. Wir wollen und müssen unsere Innovationen, unsere Autos auch in anderen Regionen der Welt absetzen können. Wenn wir uns aber zu weit von den Standards in anderen Regionen entfernen, dann sind wir zu teuer, um im internationalen Wettbewerb mithalten zu können.

Stehen durch die Veränderungen Arbeitsplätze auf dem Spiel?

Müller: Fakt ist: In den nächsten Jahren werden sich Hunderttausende Arbeitsplätze verändern. Mitarbeiter werden dadurch nicht zwangsläufig arbeitslos, sie müssen sich weiterentwickeln, umorientieren und leider werden wir auch nicht alle Arbeitsplätze erhalten können. Die Unternehmen sind hier natürlich gefragt. Genauso werden auch neue Arbeitsplätze entstehen - und da ist doch ganz entscheidend, ob Deutschland es schafft, dass diese Arbeitsplätze hier entstehen. Daher erneut mein Appell für ein massives Standortprogramm. Es ist höchste Zeit: Der Druck auf die Verlagerung wächst.

Also eine Verlagerung sogar außerhalb Europas?

Müller: Innerhalb Europas haben wir in Deutschland z.B. die höchsten Energie- und Arbeitskosten. Und weltweit ist ein harter Standortwettbewerb im Gange. Die USA machen mit dem IRA vieles richtig - sie schaffen die Grundlage für die Transformation. Europa muss sich fragen: Was bieten wir?

Liegt dies auch an einer Marktsättigung?

Müller: Nein, wir haben schon immer den größten Teil unserer Autos exportiert, aktuell sind es 70 Prozent. Jetzt gilt es, dass wir die Autos, die Transformationstechnologien, für eine klimaneutrale Zukunft hier entwickeln – und dann in die Welt exportieren. Ohne ein Mehr an Wettbewerbsfähigkeit und ein weniger an Bürokratie, scheitert diese Mission.