Berlin. E-Auto-Boom, autonomes Fahren, neue Konkurrenz: Die deutsche Auto-Industrie sieht sich an einem Wendepunkt - und warnt vor Verboten und Schließungen. Doch aus Sicht ihrer Kritiker blickt die Branche in die falsche Richtung.

Noch hat die Corona-Krise die deutsche Autoindustrie fest im Griff. Doch allmählich bahnen sich aus Sicht der Branche bessere Zeiten an.

"Wir gehen davon aus, dass das zweite Halbjahr 2021 eine Besserung bringen wird, wenn die Fortschritte beim Impfen so groß sind, dass die Pandemie im Alltag spürbar eingedämmt werden kann", sagte die Präsidentin des Verbands der Automobilindustrie (VDA), Hildegard Müller, in Berlin. Rund 2,9 Millionen Autos wurden im vergangenen Jahr in Deutschland zugelassen. 2021 sollen es laut Müller rund 3,15 Millionen Pkw sein. Vom Vorkrisen-Niveau wären solche Zahlen allerdings weit entfernt. Im Jahr 2019 hatte es starke 3,6 Millionen Neuzulassungen gegeben.

Müller geht davon aus, dass die Branche nur langsam wieder an solche Zahlen anknüpfen wird. Trotzdem soll der Blick wieder freier werden für die anderen dringenden Themen: Nicht nur die wachsende Nachfrage nach Elektro-Autos muss bedient und weiter angefacht werden. Die Hersteller dürfen angesichts der Konkurrenz auch die Entwicklungen beim autonomen Fahren nicht verschlafen. Zudem blickt die Branche mit Sorge auf EU-Diskussionen über verschärfte Klimaziele und kämpft aktuell mit einem Rohstoff-Engpass, der zu Lieferschwierigkeiten bei wichtigen Halbleitern führt.

Die VDA-Präsidentin wurde am Dienstag deshalb grundsätzlich: "Wir stehen an einem Wendepunkt, der die Richtung der folgenden Dekaden vorgibt", sagte sie bei einem Ausblick für das Jahr 2021. Dafür sei die Industrie deutlich besser gerüstet als der Standort Deutschland: Hohe Strompreise und Arbeitskosten auf der einen sowie eine zu geringe Internetgeschwindigkeit auf der anderen Seite hinderten die Hersteller bei der Umsetzung des Prozesses.

Müller warnte vor Verboten und weiteren Schließungen sowie vor einer einseitige Konzentration auf bestimmte Antriebsarten. Sie forderte erneut den Ausbau des europäischen Ladesäulennetzes für E-Autos, die Erweiterung der EU-Mobilitätsstrategie um synthetische Kraftstoffe und den Ausbau der Wasserstoffinfrastruktur. "Die EU-Mobilitätsstrategie muss in den nächsten Monaten erweitert werden um synthetische Kraftstoffe und den Ausbau einer Wasserstoff-Infrastruktur, damit der Verkehr weiter fließen kann." Die Kommission dürfe nicht nur Ziele formulieren, sondern müsse auch die Umsetzung in die Hand nehmen.

Wie verwundbar die Branche bleibt, zeigen derzeit auch die Lieferprobleme bei Halbleitermodulen, die für elektronische Systeme und Mikrochips gebraucht werden. Manche Auto-Fertigungslinien müssen erneut dichtmachen, weil die Versorgung stockt - auch wegen Engpässen des zentralen Halbleiter-Rohstoffs Silizium. "Die wenigen Halbleiterhersteller sitzen meist in Asien", kritisierte Müller. Deutschland und die EU müssten deshalb die Frage beantworten, wie viel Abhängigkeit sie zulassen wollten.

Die Klimaziele könnten nur über technische Innovationen erreicht werden. "Europa braucht diesen Innovationswettbewerb und eine aktive Industriepolitik, um die Klimaziele zu erreichen und gleichzeitig Wachstum und Beschäftigung zu sichern", hieß es.

Positiv hob sie den US-amerikanischen Elektro-Autobauer Tesla hervor, der im Rekordtempo ein Werk im brandenburgischen Grünheide bei Berlin errichtet. Diesen Schritt begrüße sie "uneingeschränkt", sagte Müller. "Das ist ein Beweis, dass es hier gute Ingenieure, gute Zulieferer gibt und so gibt es auch viele Partnerschaften, die dort entstehen. Auch die Politik habe hier ein besonderes Tempo vorgelegt und es sei wünschenswert, dass dies auch mit Blick auf andere Projekte und Unternehmen gelte.

Müllers Aussagen stießen am Dienstag indes auf Kritik vor allem von Umweltverbänden und den Grünen. "Ein Innovationswettbewerb lässt sich nur gewinnen, wenn man nach vorne läuft, statt nach hinten zu schauen", teilte Greenpeace-Verkehrsexperte Tobias Austrup mit. "Der VDA kettet die Autobranche an die überholte Technik des Verbrenners und ignoriert den Rückstand der Industrie bei der Elektromobilität."

Der Grünen-Fraktionschef im Bundestag, Anton Hofreiter, teilte mit: "Eine moderne Industriepolitik orientiert sich am Klimaschutz und setzt auf Nachhaltigkeit." Das dürfe auch in der Autoindustrie kein Widerspruch sein. Wie Müller sieht er dabei die Zukunft der Autoindustrie in neuen Technologien.

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