Berlin. Alexander Birken, Chef der Otto Group, über das Ende einer analogen Ära, seine 52.000 Mitarbeiter und die Zukunft des Versandhandels.

Der Otto-Katalog ist vergangene Woche zum letzten Mal gedruckt worden. Die Kunden bestellen online. Alexander Birken, Vorstandschef der Hamburger Otto Group, spricht mit unserer Redaktion am Rande einer Konferenz zur Zukunft der Arbeit über den boomenden Onlinehandel, Chancen der Digitalisierung und den Kulturwandel in dem Konzern mit 52.000 Mitarbeitern.

Wir sitzen hier in einem Minibüro in Berlin im hippsten Szenekiez. Ist das ein Sinnbild dafür, wo die Reise in Ihrem Konzern hingeht – kreativer Workspace statt Vorstandsetage mit Edelausstattung?

Alexander Birken: Das trifft schon sehr den Kern der Transformation, die wir in der ganzen Otto-Gruppe derzeit durchlaufen – weg von starren Strukturen und Hierarchien bis hin zu einer ganz offenen Art und Weise, gemeinsam zu denken, zu kommunizieren und zu arbeiten. Das betrifft Räume genauso wie den Abbau von Denkblockaden. Was die Szene hier in Berlin vormacht, ist, dass man extrem offen über Lösungen spricht.

Wie weit sind Sie auf dem Weg zur gelungenen digitalen Transformation?

Birken: Das ist kein Projekt, sondern ein Prozess, der womöglich nie enden wird. Da sind wir mittendrin. Und man kann überhaupt nicht abschätzen, wie weit er noch führt. Das Wichtigste ist, dass wir auf dem richtigen Weg sind.

Otto-Konzernchef Alexander Birken, hier beim Interview in Berlin, sieht die Digitalisierung „voller Chancen“.
Otto-Konzernchef Alexander Birken, hier beim Interview in Berlin, sieht die Digitalisierung „voller Chancen“. © Reto Klar | Reto Klar

Welche Rolle spielt dabei der Faktor Mensch?

Birken: Die ganz zentrale Rolle. Was wir hier vor drei Jahren begonnen haben, war eine interne Revolution: Wir haben einen Kulturwandel ausgerufen, bei dem der Mensch weiter im Zentrum der gesamten Unternehmung steht. Wir sind bewusst mit unseren Kolleginnen und Kollegen gemeinsam auf diese Reise gegangen. Das fängt bei den Vorständen an, die versprochen haben, sich selbst sichtbar zu verändern. Den Kolleginnen und Kollegen haben wir einen großen Freiraum verschafft und investieren sehr viel Zeit und Geld, damit sie ihren Beitrag leisten können – zum ­Beispiel mit speziellen Bildungsformaten wie einem „Digital Readiness“-Programm.

Sie duzen sich jetzt alle.

Birken: Wir haben allen Kolleginnen und Kollegen das Du angeboten. Das war kein PR-Gag, sondern ein Wunsch vieler Kolleginnen und Kollegen. Es geht darum, dass wir uns durch Grenzen von Fachbereichen und Hierarchien nicht mehr behindern lassen. Die Kernfrage war: Wie kommen wir besser zu einem viel stärkeren Wir-Gefühl? Ich werde oft auf dem Flur angesprochen: „Alexander, hast du mal drei Minuten, ich habe da ein Thema.“ Natürlich gibt es auch Kolleginnen und Kollegen, die am Anfang eine gewisse Distanz hatten. Aber mittlerweile ist es völlig selbstverständlich geworden. Es geht nicht darum, dass wir einen Wohlfühl-Kulturwandel betreiben. Es geht darum, Hürden abzubauen.

Vergangene Woche wurde der letzte dicke Otto-Katalog gedruckt. Wie fühlt sich die neue Otto-Welt für Sie an?

Der erste Otto Katalog erschien 1950 in 300 handgebundenen Exemplaren mit eingeklebten Fotos und mit einer Kordel gebunden 
Der erste Otto Katalog erschien 1950 in 300 handgebundenen Exemplaren mit eingeklebten Fotos und mit einer Kordel gebunden  © „Otto-Pressebild“ | „Otto-Pressebild“

Birken: Es fühlt sich superspannend an – digital, wachsend und voller Chancen. Vor über 20 Jahren haben wir angefangen, unsere Warenangebote ins Internet zu stellen. Wir waren mit die Ersten. Heute ist die Otto Group mit einem Onlineumsatz von über acht Milliarden Euro ein bedeutender Anbieter und in vielen Segmenten des Onlinehandels hierzulande Marktführer. Bei Mode und Möbeln zum Beispiel.

Hand aufs Herz – wie haben die Kunden reagiert, die den Katalog seit Jahrzehnten im Wohnzimmer haben?

Birken: Natürlich gibt es Kunden, die den Katalog vermissen werden. Aber das ist die absolute Minderheit. Bei Otto finden 97 Prozent aller Käufe online statt, 70 Prozent aller Besuche auf otto.de kommen über das Smartphone. Früher war der Hauptkatalog noch ein wichtiges Schaufenster. Das ist aber schon seit vielen Jahren viel zu klein geworden – bei drei und demnächst über sechs Millionen Artikeln auf otto.de.

Können alle Ihre Kunden mit Ihren Apps umgehen?

Birken: Ja, aber natürlich! Nahezu alle Kunden sind sehr technikaffin. Wir sehen ja, welche Produkte wir selbst verkaufen: Es sind jährlich Zehntausende Smartphones – und die werden benutzt. ­Besonders junge Kunden wie beim ­Fashion-Shop About You sind sehr vertraut mit der digitalen Welt. Aber auch viele ältere Kunden wie bei Witt bestellen auf ihren Tablets.

Wie erreicht man den Kunden besser – wie die Otto Group mit 100 spezialisierten Onlineshops oder wie Amazon auf einer einzigen Plattform?

Birken: Wir gehen bewusst einen ganz eigenen Weg. Mit der Kernmarke Otto bauen wir eine große Plattform auf. Da werden wir oft gefragt: Wollt ihr nicht so werden wie Amazon? Wir sagen: Nein! Otto wird Inspiration, Fairness und persönliche Beratung zugeschrieben. Über 2000 Mitarbeiter sind jederzeit für Beratung erreichbar.

Wie verändern technische Trends das Einkaufen im Internet?

Birken: Die Spracherkennung spielt eine große Rolle. Ich kann über meinen Google-Home-Lautsprecher bei Otto ordern oder ihn fragen, wo meine Bestellung bleibt. Noch spannender ist die Bilderkennung. Ich nehme mein Smartphone, halte die Kamera in mein Wohnzimmer, kann virtuell Möbelstücke aus dem Otto-Angebot hereinschieben und die Wirkung testen. Mit der Otto-App „Alike“ kann ich jedes Möbelstück fotografieren und sehen, welcher Shop es zu welchem Preis anbietet, und direkt bestellen. Und die Systeme lernen selbst dazu. Künstliche Intelligenz wird in alle Bereiche einziehen und unsere Kunden besser inspirieren und beraten.

About You hat den Umsatz im vergangenen Jahr auf 283 Millionen Euro verdoppelt. Können Sie zu Zalando aufschließen?

Birken: In diesem Jahr werden wir über 400 Millionen Euro umsetzen und sind sehr zufrieden mit der tollen Umsatzentwicklung – obwohl alle Händler in diesem Jahr aufgrund der Witterung mit dem Umsatz zu kämpfen hatten.

Wie läuft das Weihnachtsgeschäft?

Birken: Das ging schon im Oktober los und ging mit Black Friday und Cyber Monday in die heiße Phase. Diese wichtigen Tage sind umsatzstärker gewesen als im Vorjahr. Allein bei Otto reden wir über einen Umsatz von mehr als einer viertel Milliarde Euro. In Summe sind wir zufrieden.

Was sind Ihre Renner im Onlinegeschäft?

Der Katalog aus dem Frühjahr/Sommer 1952.
Der Katalog aus dem Frühjahr/Sommer 1952. © „Otto-Pressebild“ | „Otto-Pressebild“

Birken: Das Thema Möbel und Accessoires, was neudeutsch „Living“ heißt, entwickelt sich sehr gut. Nach wie vor sind auch im Fashion-Segment Umsatzzuwächse zu erreichen. Auch im Bereich Multimedia und Unterhaltungselektronik ist noch Wachstum drin. Aber das ist mittlerweile deutlich geringer. Da erreichen wir eine Sättigungsphase.

Wie sieht Ihre Zukunftsstrategie aus?

Birken: Wir haben eine Wachstumsstrategie mit klaren Zielen. Aus Otto wollen wir eine sehr große Plattform machen, die persönlich, fair und inspirierend ist. Mit About You bauen wir die schnellst­wachsende Fashion-Onlineplattform in ganz Europa auf. Wir investieren in Marken wie Bonprix und Witt und europaweit in Logistik. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, von heute knapp 14 auf 17 Milliarden Euro Umsatz Ende 2022 zu wachsen. Der Fokus liegt klar auf dem Onlinegeschäft, aber auch der statio­näre Einzelhandel wie bei SportScheck oder dem Möbelhändler Crate & Barrel in den USA wird weiter eine große Rolle spielen. Technik zieht in die Läden ein. Zum Beispiel Tablets, mit denen ­Produkte bestellt werden, die aktuell nicht verfügbar sind. Nächstes Jahr ­machen wir mit einem neuen Store-Konzept von Bonprix den nächsten großen Schritt.

Bei Ihrem Zustelldienst Hermes gab es im vergangenen Jahr vor Weihnachten eine Obergrenze für Pakete. Werden in diesem Jahr alle Sendungen rechtzeitig zugestellt?

Birken: Wir hatten schon im vergangenen Jahr versprochen, alle zugesagten Paketmengen auszuliefern. Daran haben wir uns gehalten. Das wird in diesem Jahr auch so sein. Aber lassen sie mich eines sagen: Allen Kollegen in unseren Paketfabriken und auf der letzten Meile gebührt ein großes Dankeschön. Die arbeiten an der Schmerzgrenze bis zur letzten Minute – im Zweifel noch bis kurz vor Heiligabend.