Schwebheim. Ress Kutschen produziert als einer der letzten Betriebe Deutschlands Holzrodelschlitten. Ein Handwerk, das bald verschwinden könnte.

Es riecht holzig und nach heißer Luft. Durch schmale Lichtschächte dringt kühles Januargrau, weiße Neonröhren leuchten die Werkstatt aus. Auf Hubwagen an der Wand stapeln sich meterhoch Holzfurniere. In der Mitte des Werkraumes türmen sich fertig in Form gepresste Holzblöcke. Zwischen zwei rotierenden Walzen plätschert Leim, der zur besseren Klebefähigkeit mit Roggenmehl angereichert wird. Schicht für Schicht stapeln Arbeiter die Holzfurniere aufeinander, jedes zweite Brett wird vorher in die Leim-Mehl-Mischung getunkt.

In Schwebheim, rund zehn Autominuten südlich von Schweinfurt entfernt, stellt der Handwerksbetrieb Ress Kutschen traditionelle Holzrodelschlitten her – als einer der letzten in Deutschland. Ress hat eine lange Tradition, doch die könnte schon bald an ihr Ende kommen. Denn mit dem deutschen Schlittengeschäft geht es bergab. Es gibt keine neuen Absatzmärkte, Plastikprodukte aus Osteuropa drängen auf den Markt, der Klimawandel gibt der Branche den Rest.

Geschichte des Betriebs beginnt 1696

Früher war die Handwerkskunst der Rad- und Schlittenmacher sehr gefragt: Die Geschichte des Handwerksbetriebs Ress beginnt 1696 – damals lag das Hauptgeschäft noch im Bau von Kutschen und Wagen. Zu dieser Zeit machten die Kutschen des Hochadels auf der Route von Frankfurt nach Wien hier Halt. Die Pferde wurden getränkt und gefüttert und Radmacher Matthias Ress zog die Holzräder nach. Den Kutschen folgten irgendwann Dampfräder und denen wiederum die ersten Autos. Die Holzräder von Ress hatten ausgedient. Ab dem späten 19. Jahrhundert widmete sich der Handwerksbetrieb dem Schlittenbau – bis heute sind die Rodel das Hauptgeschäft.

Firmenchef Michael Ress.
Firmenchef Michael Ress. © Alex Kraus | Alex Kraus

Die Produktionsstätte von Ress liegt direkt an einer Neubausiedlung, die Vorgärten sind bis zur Perfektion getrimmt. Das graubraune Betriebsgelände des Schlittenbauers fällt aus dem Bild. Im Schaufenster türmen sich Holzschlitten aller Art, dahinter sind zwei Oldtimer abgestellt, an den Wänden hängen Gesellenstücke und altes Werkzeug. In der Werkstatt werden die Holzfurniere gestapelt, manchmal zehn, dann wieder vierzehn Schichten. Je nachdem, ob aus dem Rohmaterial später Rückenlehnen für Kinderschlitten oder Kufen werden sollen. Ist das Holz fertig geschichtet, wird es gepresst. Die 120 Grad heißen Pressblöcke biegen die Platten in die Schlittenform. Zehn Minuten dauert das. Sind die Holzblöcke ausgekühlt, werden sie in die Halle nebenan zum Zuschnitt gekarrt.

Den Beruf des Wagners gibt es heute nicht mehr

„Die Schlittenproduktion ist dem Tod geweiht“, sagt Michael Ress und nimmt einen tiefen Zug seiner Zigarette. Der 63-Jährige führt den Betrieb in der achten Generation. Nach ihm wird niemand mehr kommen. Der gelernte Wagner sitzt im Frühstücksraum seiner Firma, auf dem Tisch steht auch einen Monat nach Weihnachten noch Stollen, daneben Bockwürste im Glas. Vor 30 Jahren habe es in Deutschland noch knapp 20 bedeutende Hersteller von Holzschlitten gegeben. Vier weitere Manufakturen kenne er neben seiner in Deutschland jetzt noch, „das war’s dann aber auch“, sagt Ress.

Den Beruf des Wagners – in nördlicheren Regionen Deutschlands auch Stellmacher genannt – gibt es heute nicht mehr. Seit einigen Jahren darf Michael Ress in seinem Betrieb nicht einmal mehr ausbilden. Die Lehre zum Wagner wurde eingestellt. Zählte zur Wagnerei einst die Anfertigung von landwirtschaftlichen Geräten aus Holz, ähnelt dem Beruf heute eher die Tätigkeit des Fahrzeug- und Karosseriebauers.

Nach Angaben des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH) gab es Ende 2016 nur noch neun Holzreifenmacher in Deutschland. 22 Wagner hat Michael Ress ausgebildet, seit er den Betrieb 1974 übernommen hat. „Damit ist jetzt leider Schluss“, sagt er. Ress selbst wurde von seinem Vater im eigenen Betrieb ausgebildet. Bevor er die Firma übernahm, sammelte er in anderen Unternehmen der Holzverarbeitung und des Karosseriebaus Erfahrung.

Schlittenholz kommt aus dem Thüringer Wald

Heute führt er den Betrieb, hilft überall, wo gerade Not am Mann ist. „Meist bin ich für den Versand und das Beladen der Lkws zuständig“, sagt er, „und die Reparaturen unserer Maschinen übernehme ich.“ Einige der Maschinen, mit denen die Schlittenteile gepresst, geschnitten oder gelocht werden, hat Ress selbst gebaut.

Ein Arbeiter aus der Holzpresserei hebt einen fertig geformten Holzblock aus der Walze. Jedes zweite Brett wird vorher in eine Leim-Mehl-Mischung getunkt.
Ein Arbeiter aus der Holzpresserei hebt einen fertig geformten Holzblock aus der Walze. Jedes zweite Brett wird vorher in eine Leim-Mehl-Mischung getunkt. © Alex Kraus | Alex Kraus

Das Buchenholz, aus dem die Rodel hergestellt werden, kommt aus dem Thüringer Wald und dem Bayerischen Wald. Presserei, Zuschnitt, Montage – von den Holzfurnieren bis zum fertigen Schlitten wird hier alles in Handarbeit erledigt. Das Schlittengeschäft macht 80 Prozent des Umsatzes aus. Daneben kümmert sich der Betrieb um die Reparatur von Cabriodächern und alten Kutschen. Sechs feste Mitarbeiter beschäftigt Ress – je nach Saison kommen Teilzeitkräfte hinzu.

Bis vor zehn Jahren verkaufte die unterfränkische Schlittenmanufaktur im Durchschnitt noch 56.000 Rodel pro Saison. Einen echten Schlittenmangel gab es zuletzt im Rekordwinter 2010/11. „Wir hatten unsere Produktion damals verdreifacht und arbeiteten quasi rund um die Uhr“, erinnert sich Ress. Bis zu 200 Schlitten mussten innerhalb eines Tages zusammengehämmert, -geleimt und –geschraubt werden. „Vier Stunden Schlaf mussten damals reichen.“

Immer weniger Schnee im Winter

Doch die Winter wurden milder und vor allem schneeärmer. In dem Traditionshandwerk setzte das Firmensterben ein. Die verbliebene Nachfrage deckten Handelskonzerne mit Waren aus Osteuropa. Für die sporadischen Winterfreuden der Kunden schienen billige Plastikbobs gut genug.

Im vergangenen Winter verkaufte Ress gerade einmal 8300 Schlitten in der ganzen Saison. „An Weihnachten vor zwei Jahren haben wir bei 18 Grad Cabriodächer repariert“, sagt der Firmenchef. Das unkalkulierbare Wetter ist für Ress die größte Herausforderung. „Die Klimaerwärmung ist da“, sagt er. „Da gibt es gar nichts zu diskutieren und sie könnte unser letztes Schicksal sein.“ Je nach Winter könne der Umsatz von einer Million bis hin zum Doppelten schwanken. Ein schwer kalkulierbares Geschäft: Suchen wegen plötzlichen Schneefalls doch viele Großstädter einen handgemachten Schlitten, kann es heute oft zu Lieferengpässen kommen.

Wenn die Wiesen grün sind, denkt niemand ans Rodeln

Ein Problem sei auch, dass die Nachfrage erst komme, wenn der Schnee wirklich sichtbar ist. „Mein Vater sagte immer, wenn der 6. Dezember weiß ist, ist das nächste Jahr gerettet“, erinnert sich Ress. Solange die Wiesen grün sind, komme niemand auf die Idee, zu Weihnachten Holzschlitten zu verschenken.

Dieses Jahr läuft es wieder deutlich besser als im vergangenen Winter. 200 bis 230 Schlitten werden derzeit am Tag verkauft. Die Belegschaft arbeitet seit Dezember von Montag bis Samstag durch. Jeden Tag von 7 bis 19 Uhr. „Urlaub gibt es für uns erst wieder nach Fasching“, sagt Ress, „und ehrlich, wir sind hier alle froh darum.“ Spätestens in drei Jahren will Michael Ress in Rente gehen. Was dann mit seinem Familienbetrieb passiert? „Ich habe meinen Kindern gesagt, dass ich ihnen das nicht zumuten will“, sagt der 63-Jährige. Zu groß sei das Risiko. Sollte sich niemand finden, der den Betrieb weiterführen möchte, findet die über 300 Jahre alte Geschichte von Ress Kutschen ihr Ende.