Washington. Nach den Missbrauchsvorwürfen gegen Filmproduzenten Harvey Weinstein bricht Noch-Ehefrau ihr Schweigen. Was wirft sie ihm genau vor?

Erst zehn. Dann 20, 40 und 60. Später 80. Am Ende waren es über 100 Frauen, die seit sich Oktober vergangenen Jahres öffentlich als Opfer der Sexsucht und durchtriebenen Macho-Allüren von Harvey Weinstein geoutet haben. Und mit jedem Fall dröhnte eine Frage immer lauter: Hat sie wirklich nie etwas bemerkt? Sie, das ist Georgina Chapman. Ehefrau des Hollywood-Produzenten, Mutter von zwei gemeinsamen Kindern und bis zum Absturz des Gatten, der als Auslöser der weltweit aktiven #MeToo-Bewegung in die Geschichtsbücher eingehen wird, eine gefeierte Mode-Designerin.

Sieben Monate später hat die 42-Jährige, der zwischenzeitlich Vorwürfe von „stillschweigender Duldung“ bis „heimlicher Komplizin“ gemacht wurden, erstmals ihr Schweigen gebrochen. „Absolut nichts“ habe sie von der pathologischen Umtriebigkeit Weinsteins gewusst, sagte sie der „Vogue“ in ihrem ersten mit Annie-Leibovitz-Fotos garnierten Interview nach dem Desaster, „ich habe geglaubt, eine sehr glückliche Ehe zu führen.“

Auch von Abfindung ist die Rede

Dass die Realität anders war, kam wie ein Keulenschlag. „Ein Teil von mir war schrecklich naiv, so naiv“, sagt Chapman und beschreibt Momente der „Wut“, der „Verwirrung“ und der „Ungläubigkeit“.

Als sie die ersten Berichte über ihren Mann in der „New York Times“ und kurz darauf im Magazin „New Yorker“ las, sei für sie eine Welt kollabiert. „Ich habe fünf Kilo in fünf Tagen abgenommen“, erinnert sich die in der Nähe von London geborene Geschäftsfrau an die Schock-Periode, in der sie sich „beschämt und gebrochen“ gefühlt habe.

Darum monatelang keine öffentlichen Auftritte. Stattdessen Psychotherapie, Selbstbefragung und der Bau einer Art Schutzwall für die Kinder, die ihren Vater „unverändert lieben“. Chapman hat früh die Entscheidung für die Scheidung gefällt. Das Verfahren läuft noch. Aber die Eckpunkte standen bereits in der „New York Daily News“. India und Dashiell, die Kids, bleiben bei der Mutter, der gemäß Ehevertrag rund zwölf Millionen Dollar zustehen sollen. Auch von einer Abfindung und einem Wohnsitz auf einem Bauernhof im Bundesstaat New York ist die Rede.

Georgina Chapmans Modelabel war tabu

Bei so viel „Schadensersatz“ kann leicht Missgunst aufkommen; vor allem angesichts der tatsächlichen Opfer, die Weinsteins Drängen körperlich zu spüren bekamen. Darum schiebt Chapman sofort hinterher: „Ich will nicht als Opfer gesehen werden“. Sie sei einfach „eine Frau in einer beschissenen Situation“, aber natürlich kein Einzelfall.

Wer das in der Juni-Ausgabe der Mode-Bibel prominent verkaufte Interview mit Chapman liest, stellt fest, dass die Missetaten Weinsteins (und wie er sie so lange vor seiner Ehefrau verborgen halten konnte) gar nicht im Vordergrund stehen. Zweck der Übung ist eine von Herausgeberin Anna Wintour im Vorwort beglaubigte Rehabilitationsmaßnahme für Chapman, die seinerzeit mit ihrer Modefirma Marchesa in Sippenhaft genommen wurde.

Film-Sternchen, die sonst gerne (oder auf Druck Weinsteins) die opulenten Gala-Roben von Georgina Chapman und ihrer Partnerin Keren Craig im Blitzlichtgewitter über die roten Teppiche spazieren trugen, belegten das Label mit einem Bann. Im Internet kursierte das Hashtag #boycottmarchesa. Die Schmuckfirma Helzberg Diamonds kündigte Chapman die Zusammenarbeit. Bei den Galas für die Golden Globes und die Oscars waren Textilien aus dem Hause Marchesa nicht zu sehen.

Gegenbewegung bei Met-Gala

Erst vor wenigen Tagen setzte die Gegenbewegung ein. Bei der pompösen Met-Gala in New York führte Scarlett Johansson erstmals wieder ein rot-weißes Abendkleid von Marchesa vor. „Weil Frauen sich darin so gut fühlen können“, sagte die Star-Schauspielerin sinngemäß. Und gab damit das Signal, dass man eine Frau nicht abstrafen darf, deren Mann sich an Frauen vergriffen hat.

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    Darf man nicht? Im Gespräch mit der „Vogue“ erweckt Chapman sehr bewusst den Eindruck, dass die verhängnisvolle Übergriffigkeit ihres Noch-Mannes im allerersten Medienbericht im Oktober 2017 aus einer Zeit stamme, in der sie Weinstein noch gar nicht gekannt habe. Jodi Kantor, die preisgekrönte Autorin, widerspricht. Sie verweist auf die Zeitspanne der bis ins kleinste Detail recherchierten Fälle: 1990 bis 2015. Chapman und Weinstein hatten 2007 geheiratet.