Kahramanmaras. Türkei: Ali Karacali reist aus der Schweiz ins Erdbebengebiet. Sein Bruder liegt unter den Trümmern. Report einer verzweifelten Suche.

Auf einmal ziehen die Helfer ein schwarzes Stück Stoff aus den Trümmern. Eine Badehose, voller Staub, mit weißen Streifen an den Seiten, und einem Adidas-Logo. „Das ist meine“, sagt Ali Karacali. Die habe er getragen, als sie gemeinsam hier die warmen Sommertage verbracht haben. Er, und sein Bruder Abdullah. „Jeden Urlaub war ich bei ihm“, sagt Karacali.

Sein Bruder richtete ein Zimmer ein, wenn Ali Karacali zu Besuch aus der Schweiz kam, wo er seit vielen Jahren lebt. Er bezog die große Matratze für Ali und seine Frau, Kleidung und Handtücher hatten sie ohnehin dort. Es war immer ein wenig wie nach Hause kommen.

Die Matratze liegt jetzt neben einem Bagger auf den Trümmerhaufen. Sieben Stockwerke war der Wohnblock hoch, in dem sein Bruder lebte. Das Haus liegt zerbröselt in Tausende Teile vor Ali Karacali. „Dort muss sein Schlafzimmer gewesen sein.“ Ali Karacali zeigt weit in den Berg aus Steinen, Eisenstangen, Sand, Stahlträgern, Schutt. „Wir denken, dass mein Bruder dort liegt.“

Das Erdbeben hat Menschen für immer von ihren Liebsten getrennt

Die bebende Erde hat Risse geschlagen. In Häuser, in Straßen, in Brücken. Aber es hat auch Familien zerrissen, Menschen von ihren Liebsten für immer zertrennt. Eine Woche vor dem Beben war Ali Karacali noch aus der Schweiz in seinen Heimatort in die Türkei gereist. Ein Verwandter war gestorben, Herzprobleme. Sie beerdigten ihn. Dann reiste Ali zurück. Er sah seinen Bruder zum letzten Mal lebend.

Etwas mehr als eine Woche später ist Ali Karacali wieder in seiner Heimat, hier in der Region um Kahramanmaras, eine Stadt, in der fast 700.000 Menschen lebten. Das Epizentrum des Bebens in der Nacht zu Montag lag genau hier am Rand des Taurusgebirges.

Nun liegt vieles in Trümmern. Nachts, wenn nur noch die Scheinwerfer der Bagger und das Blaulicht der Krankenwagen leuchten, liegen die Häuser, die noch stehen, da wie die Schatten von Bergen. Alles ist schwarz, nirgendwo brennt Licht.

Es sind Schatten, die nachts nun über vielen Städten und Dörfern liegen. In Kahramanmaras und Iskenderun, in Hatay und Kirikhan, in Nurdagi und Pazarcik. Ihr Schicksal lässt sich entlang der Statistiken erzählen. Fast 30.000 Tote sind in der Türkei geborgen. Eine Fläche der Größe Deutschlands ist betroffen.

Erdbeben: Verzweifelte Suche nach dem verschütteten Bruder

Man kann aber auch in diese Katastrophe reinzoomen, um die Wucht des Bebens zu fassen. Nach Kahramanmaras, Trabzon Boulevard, Hausnummer 107.

Im Erdbebengebiet: Ali Karacali lebt in der Schweiz - und sucht in dem eingestürzten Haus in der türkischen Stadt Kahramanmaras nach seinem verschütteten Bruder.
Im Erdbebengebiet: Ali Karacali lebt in der Schweiz - und sucht in dem eingestürzten Haus in der türkischen Stadt Kahramanmaras nach seinem verschütteten Bruder. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Alis Bruder Abdullah Karacali lebte allein in seiner Wohnung, erster Stock. Jedes Apartment hatte einen Balkon, im Erdgeschoss lagen ein Lebensmittelladen, ein Heizungsmonteur, das Büro eines Innenausstatters. Nichts davon ist mehr zu erkennen. Unter Schutt und Eisenstangen sieht man noch das Heck von Abdullahs Auto, ein silberner Renault Symbol.

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Langsam legt sich die Dämmerung über Kahramanmaras. Zwei Bagger graben im Schutt der Ruine vom Trabzon Boulevard 107. Ali Karacali trägt eine grüne Jacke mit Kapuze, eine graue Schiebermütze wärmt seinen Kopf. Er sitzt auf einem der Bagger, direkt neben dem Führerhaus. Karacali leuchtet mit einer Taschenlampe auf die Trümmer, die der Baggerfahrer beiseite schaufelt. Er trägt eine Maske über Mund und Nase. Nicht gegen Corona. Gegen den Staub, der aus der Ruine aufsteigt.

Keine Minute weicht er von dem Ort, wo sein Bruder liegt. Immer ist er dort, steigt runter vom Bagger, rauf auf die Trümmer, wieder zurück auf den Bagger. Blickt auf die Teile, die Helfer aus der Grube hochreichen. Bettlaken, Kleidung, einen Schlüssel, eine Brille, Hefte, Bücher, ein Koran.

Besonders stark vom Erdbeben getroffen: Viele Häuser im türkischen Kahramanmaras sind eingestürzt und haben Menschen unter sich begraben.
Besonders stark vom Erdbeben getroffen: Viele Häuser im türkischen Kahramanmaras sind eingestürzt und haben Menschen unter sich begraben. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Ali Karacali hält sie kurz in der Hand, sagt ein paar Worte. „Das gehörte ihm nicht.“ Oder: „Das könnte aus der Küche sein.“ Seine Stimme ist weich. Er wirkt ruhig. Und er schweigt viel, sagt nur das nötigste. Es wirkt, als wolle er alle Energie sparen, alle Kraft fokussieren auf die Bergung seines Bruders, jetzt, mehr als 100 Stunden nach dem Beben.

Hast du noch einen Funken Hoffnung, das er lebt? „Nein. Schau doch, wie soll ein Mensch dort noch leben?“

Vor dem Erdbeben: Ali Karacali aus der Schweiz mit seinem  Bruder Abdullah im türkischen Kahramanmaras.
Vor dem Erdbeben: Ali Karacali aus der Schweiz mit seinem Bruder Abdullah im türkischen Kahramanmaras. © Privat | Privat

Erdbeben: Viele kannten den verschütteten Lehrer Abdullah

Abdullah war Lehrer an einem Gymnasium in der Stadt. „Viele kannten ihn hier“, sagt sein Bruder Ali. Abdullah unterrichtete türkische Sprache und Literatur, ein wacher Mensch, interessiert an Kultur und Sprachen, an Geschichte und Religion. „Er liebte die Menschen, die Kinder in seiner Schule“, sagt Ali.

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Immer wieder sammeln sich die Menschen vom Trabzon Boulevard an den Trümmern. Sie umarmen sich, sie reden, sie wärmen sich am Lagerfeuer, das seit Tagen auf der Straße brennt, Stühle stehen drumherum.

Da ist ein früherer Nachbar von Abdullah Karacali, ein älterer Mann, der mit seiner Familie in der Wohnung über ihm gelebt hat. Er entkam in der Nacht des Bebens noch aus dem Haus. Er, seine Frau, die beiden Kinder seien durch die Erschütterung rausgeschleudert worden aus der Wohnung, erzählt er. Genau erinnere er sich nicht an den Augenblick. Nur das Bein habe er sich eingeklemmt, jetzt hat er den Fuß in eine Plastiktüte gewickelt. Ein Besenstiel dient ihm als Krückstock.

Verzweiflung nach Erdbeben: Keiner weiß, wie es weitergehen soll

Da sind Rashid und Fatma, Verwandte der Familie Karacali, die ihre Wohnung ein paar Häuser weiter hatten. Das Haus stehe noch, sagt Fatma. „Aber ich werde nie wieder dorthin zurückkehren.“ Jetzt hat sich das ältere Ehepaar ein Zelt auf einem Feld am Rand der Stadt aufgebaut, in dem sie schlafen. Tagsüber sind sie fast immer in der Stadt, am Trabzon Boulevard, holen sich Essen und Trinken von den Helfern, reden mit den Nachbarn. Über das, was passiert ist. Mehr noch darüber, wie es weitergehen soll. Aber eigentlich kann es keiner von ihnen sagen.

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Am Tag zuvor, erzählt Ali Karacali, hätten sie noch eine Frau aus den Trümmern gezogen, lebend. Mehr als drei Tage und Nächte nach dem Beben. Sie wohnte im fünften Stock, war 67 Jahre alt. „Als wir sie rausholten, griff sie zufällig nach meinem Arm“, sagt Ali. Ein Krankenwagen brachte sie weg.

Alis Stimme wird leise, wenn er erzählt. Aber sie bricht nie weg, wird nie zitterig. Es legt sich keine Wut in seine Worte. Manchmal wirkt er kontrolliert in diesen Stunden, in denen diese Region mit den Beben und den Folgen jede Kontrolle verloren hat.

Eine Suche mit traurigem Ende: Abdullah wird tot geborgen

Die Bagger schaufeln bis in die Nacht. „Stopp!“, rufen die Helfer plötzlich. Sie entdecken ein kleines Loch in dem Schutt. Mit Händen wühlen sie in den Trümmern, ziehen eine Schublade mit Fotos und Heften hervor. Ein paar Flaschen, Bettlaken. Ali zuckt mit den Schultern. „Ich erkenne es nicht wieder.“

Am Tag nach dem Besuch bei Ali Karacali rufen wir ihn noch einmal an. Seine Stimme ist ruhig, weich. So wie in den vergangenen Tagen auch, an denen wir mit ihm in Kontakt waren. Es hatte noch einmal ein Nachbeben gegeben, kein schweres, aber doch spürten sie die Erde zittern. Dann erzählt er, dass sie die Leiche seines Bruders heute in den Trümmern entdeckt und rausgeholt haben. „So um eins, halb zwei.“ Abdullah Karacali überlebt das Beben nicht, er wurde 63 Jahre alt. Sein Bruder Ali begräbt ihn gemeinsam mit Verwandten auf dem Friedhof der Familie, 20 Kilometer entfernt von Kahramanmaras.