Köln. Jacqueline van Maarsen war eine Schulfreundin von Anne Frank. Mittlerweile spricht sie über ihre Freundschaft zu dem berühmten Mädchen.

Weiße Hose, Bluse, randlose Brille zu ergrautem Haar, so betritt Jacqueline van Maarsen den Raum. Das Gehen fällt ihr schwer in letzter Zeit, aber die Erinnerungen sind noch alle da.

90 Jahre ist sie mittlerweile, so alt, wie Anne Frank am kommenden Mittwoch würde, wenn die Nazis sie nicht in ihrem Hinterhaus-Versteck in Amsterdam abgeholt und ins Konzentrationslager Bergen-Belsen verschleppt hätten. Über diese Anne Frank will sie heute reden, über sie kann sie mittlerweile reden. „Wir waren“, sagt van Maarsen, „beste Freundinnen.“

Sie weiß noch genau, wie das war, damals im September 1941. Am ersten Tag im neuen „Joods Lyceum“, das künftig alle jüdischen Kinder in Amsterdam besuchen mussten. Es ist Schulschluss und Jacqueline hat sich gerade auf ihr Fahrrad geschwungen, als sie hört, wie hinter ihr jemand ihren Namen ruft.

Als sie sich umdreht, sieht sie „ein dürres Mädchen mit glänzendem schwarzen Haar“. Sie hätten offenbar den gleichen Heimweg, sagt das Mädchen, und dass man da ja wohl künftig zusammen fahren könne. Dann stellt sie sich vor: „Ich bin Anne. Anne Frank.“

Die beiden Mädchen sind das genaue Gegenteil

Anne ist anders als Jacqueline. Sehr lebendig, aufgedreht und mit nicht enden wollendem Redeschwall. „Ich habe nie wieder jemanden kennengelernt, der so voller Leben war“, sagt van Maarsen. Sie ist damals das genaue Gegenteil. Ruhig, introvertiert, oft schüchtern. „Vielleicht“, mutmaßt die Niederländerin heute, „sind wir gerade deshalb so gute Freundinnen geworden.“

Sie treffen sich täglich, verbringen die Nachmittage und Abende zusammen – meist im Haus der Franks. Dort machen sie Hausaufgaben, lesen und reden einfach nur. „Jungs waren ein großes Thema. Anne hat mir alles erzählt.“ Nur dass sie flüchten wird, sich versteckt vor den Nazis in einem kleinen Hinterhaus in der Prinsengracht, das erzählt sie ihrer „Jopie“, wie sie Jacqueline nennt, nicht.

Eines Tages ist die Familie Frank einfach verschwunden. „Abgereist in die Schweiz“ ist das Gerücht, das sie gestreut haben – Jacqueline wähnt ihre Freundin in Sicherheit. Sie ist nicht böse, aber „Anne hat mir schrecklich gefehlt“.

Auch van Maarsen hat Probleme mit den deutschen Besetzern

Gesprochen wird fortan nicht mehr über die Franks. „Niemand hat damals über so etwas gesprochen.“ Denn jeder hat genügend eigene Probleme – auch die van Maarsens. Jacqueline und ihre Schwester Christiane sind die Töchter eines jüdischen Holländers und dessen christlicher Ehefrau und damit Halbjüdinnen.

Eine Kopie vom Tagebuch des berühmten Mädchens wird in der Ausstellung „Alles über Anne“ im Anne Frank Zentrum in Berlin ausgestellt.
Eine Kopie vom Tagebuch des berühmten Mädchens wird in der Ausstellung „Alles über Anne“ im Anne Frank Zentrum in Berlin ausgestellt. © dpa | Insa Kohler

Deshalb wenden sich die Eltern im Dezember 1941 an Hans Calmeyer, einen Juristen der deutschen Besatzung, der eine Entscheidungsstelle für „rassische Zweifelsfälle“ leitet. Sie sei Christin, sagt Mutter van Maarsen. Ihr jüdischer Mann habe ohne ihr Wissen ihre Kinder bei der jüdischen Gemeinde angemeldet. Ein Irrtum. Tatsächlich seien Jacqueline und Christiane christlich erzogen worden. Das rettet sie vor der Deportation.

Einige Zeit nach Kriegsende steht plötzlich Annes Vater Otto vor der Tür der Familie. Ausgemergelt, traurig, hoffnungslos. Er erzählt vom Tod seiner Tochter, gibt Jacqueline das Tagebuch, das sie geschrieben hat in ihrem Versteck. Jacqueline erfährt darin als erste von den Briefen, die Anne ihr geschrieben hat, aber nie abschicken durfte.

„Ich hoffe, dass wir einander wiedersehen, immer beste Freundinnen bleiben“, liest Jacqueline unter Tränen. Es sind Zeilen, die sie quälen. „Es war unglaublich schmerzvoll.“

Anne Frank wollte einmal berühmt werden – bloß keine Hausfrau

Annes Vater will mit ihr über seine Tochter reden, will wissen, was wohl aus ihr geworden wäre. Immer wieder stellt er diese Frage. „Ich wusste es nicht“, sagt van Maarsen. „Ich weiß es bis heute nicht.“ Sie weiß nur, was Anne werden wollte. „Berühmt wollte sie werden, auf keinen Fall eine Hausfrau sein.“

Mitte der 1950er heiratet Jacqueline ihren Jugendfreund Ruud Sanders, das Paar bekommt drei Kinder. In der Öffentlichkeit spricht sie nur selten über Anne. Weil sie die Erinnerung an die schlimmen Jahren verdrängen will.

Vor allem aber, weil sie nicht bekannt werden möchte, als „die beste Freundin von Anne Frank“. „Ich wollte immer meine eigene Identität.“

In den 80ern bricht sie ihr Schweigen

Erst in den frühen 80er-Jahren bricht sie ihr Schweigen. Je populärer Anne und ihr Tagebuch werden, desto mehr Menschen tauchen auf, die behaupten, eng mit ihr befreundet gewesen zu sein. „Dabei haben die meisten davon sie nie getroffen. Das hat mich unglaublich aufgeregt.“

Zur Aufregung aber gesellt sich auch die Einsicht, dass sie helfen kann, die Gegenwart zu verbessern, wenn sie erzählt, wie schlimm die Vergangenheit war. Deshalb hält sie fortan Reden, besucht Schulklassen, schreibt Bücher. Und deshalb hat sie auch bei der WDR-History App zu Anne Frank mitgemacht. „Damit kann man junge Menschen erreichen.“ Das findet sie wichtig. „Ich spüre bis heute Antisemitismus.“

Er macht ihr keine Angst, sagt sie; sie will auf ihn aufmerksam machen. „Man muss einfach verhindern, dass solche Sachen noch einmal passieren.“