Hamburg. Die Kadettin Jenny Böken ging vor zehn Jahren über Bord. Nun präsentieren ihre Eltern einen Zeugen, der von einem Verbrechen spricht.

Es ist einer der rätselhaftesten Todesfälle in der Nachkriegsgeschichte der Deutschen Marine: Im September 2008 fiel die erst 18 Jahre alte Kadettin Jenny Böken über Bord des Segelschulschiffes „Gorch Fock“ und wurde später tot geborgen.

Offiziell wird von einem tragischen Unglück ausgegangen. Die Eltern der jungen Frau sind nach eigenen Angaben nun jedoch auf einen neuen Zeugen gestoßen – demnach sei es wahrscheinlich, dass ihre Tochter einem Verbrechen zum Opfer fiel.

Der Zeuge habe sich im August bei der Familie gemeldet und eine eidesstattliche Versicherung abgegeben, berichtet der Westdeutsche Rundfunk (WDR). „Die Aussage, die unter Eid geleistet wurde, ist sehr deutlich. Sie spricht von einem Geschehen unmittelbar an Bord.

Am 3. September über Bord gegangen

Zur damaligen Zeit um Jenny Böken. Sie hat auch eine Vorgeschichte zum Gegenstand“, sagt Rainer Dietz, Anwalt der Familie in einem WDR-Interview. Seiner Meinung nach begründet die Zeugenaussage mindestens den Verdacht eines Totschlags. Der Zeuge selber habe das Wort „Mord“ in den Mund genommen.

Der Vater von Jenny Böken sagte dem Bericht zufolge, dass dem Tod seiner Tochter ein sexueller Übergriff vorausgegangen seien könnte. Der Zeuge spreche von einer Vergewaltigung und von einer möglichen Schwangerschaft seiner Tochter. „Sollte Jenny gewaltsam ums Leben gekommen sein, dann würde der Rest dessen, was wir kennen, was wir wissen, durchaus dazu passen“, sagte der Vater dem WDR.

Jenny Böken war am 3. September 2008 während ihrer Nachtwache gegen 23.34 Uhr über Bord gegangen. Nach früheren Angaben der Staatsanwaltschaft Kiel fiel sie demnach 15 Kilometer vor Norderney in die Nordsee und ertrank. Zwei Wochen später wurde ihre Leiche aus der Nordsee geborgen – ohne Schnürstiefel, wie die Eltern den Akten entnahmen.

Eltern haben schon viele Anstrengungen unternommen

Der Kieler Staatsanwaltschaft hatte zum Abschluss der Untersuchungen mitgeteilt: „Die Ursache für den Todesfall konnte nicht abschließend festgestellt werden.“ Die Behörde sprach von einem tragischen Unglück. Das letzte Foto von Jenny Böken war noch auf dem Speicherchip ihrer Kamera, gemacht am Nachmittag desselben Tages an Deck des Schiffs: Eine junge, unbeschwert lachende Frau mit braun gebranntem Gesicht. Am darauffolgenden Tag hätte sie ihren 19. Geburtstag gefeiert.

 Die Steuerräder und ein Teil der Masten sind an Bord der Gorch Fock.
Die Steuerräder und ein Teil der Masten sind an Bord der Gorch Fock. © dpa | Carsten Rehder

Die Eltern sehen bereits seit mehreren Jahren jedoch einige Indizien, die gegen einen Unfall sprechen sollen. In der Lunge von Jenny Böken sei kein Wasser gefunden – dies könne darauf hinweisen, dass die 18-Jährige möglicherweise schon tot war, als sie ins Wasser fiel. Außerdem fehle bis heute Jennys privates Tagebuch, dass zuvor an Bord gewesen sein soll. Auch seien einige Zeugenaussagen nicht, sagte der Anwalt der Familie bereits im Jahr 2014. „In der allerersten offiziellen Meldung der Marine nach dem Ereignis war die Rede von ruhiger See und 17 Grad Wassertemperatur.“ Leute im Rettungsboot hätten aber von 3,50 Meter hohen Wellen gesprochen.

Auf juristischem Wege haben die Eltern bereits viele Anstrengungen unternommen, um neue Ermittlungen in dem Fall zu erzwingen. Sie scheiterten jedoch mit entsprechenden Anträgen sowohl vor Landesgerichten, als auch vor dem Bundesverfassungsgericht. Bei der Marine sei der Fall weiterhin eine Verschlusssache, so Eltern und Anwalt gegenüber dem WDR.

Immer wieder Berichte über Streitigkeiten auf dem Schiff

Nach einem weiteren Todesfall auf der „Gorch Fock“ waren auch Berichte über heftige Spannungen auf dem Segelschulschiff aufgetaucht. Die 25-jährige Sarah Lena S. war am 7. November 2010 im brasilianischen Hafen von Salvador da Bahia beim Segelsetzen aus 27 Meter Höhe auf das Schiffsdeck gestürzt.

Zwischen Kadetten und Schiffsführung soll es laut dem ehemaligen Wehrbeauftragten Hellmut Königshaus zum Streit gekommen sein. Die Offiziersanwärter sollen sich geweigert haben, auf Druck ihrer Vorgesetzten in die Takelage zu steigen. Auch die Mutter von Jenny Böken hatte daraufhin gegenüber dem Abendblatt erneute Kritik geübt: Es sei denkbar, dass Zeugen eingeschüchtert worden seien.

Bereits seit dem Jahr 2015 liegt die „Gorch Fock“ zur Sanierung auf einer Werft in Bremerhaven. Die Zukunft des Schiffes ist umstritten. (HA)

Dieser Text erschien zuerst auf www.abendblatt.de