Berlin. In Erdbebengebieten würden sich alte Häuser zuverlässig schützen lassen. Einfach und günstig. Doch kaum jemand kennt das Verfahren.

Fast täglich muss die Zahl der Erdbebenopfer in der Türkei und Syrien nach oben korrigiert werden. Mittlerweile sollen es über 42.000 Tote sein. Die meisten von ihnen sind nicht durch das Erdbeben im engeren Sinne umgekommen, sondern durch Trümmerteile, wenn Gebäude einstürzen. Lesen Sie auch: Erdbeben in der Türkei – Das Elend der Überlebenden

Der beste Schutz gegen Erdbeben sind – sichere Gebäude.

Längst läuft in der Türkei eine Debatte über Bausicherheit-, Vorschriften- und Genehmigungen. Würde man fortan bei jedem Neubau keine Kosten und keinen Mühen scheuen, um Gebäude mit aufwendigen Verfahren und Stahlbeton hochzuziehen, bliebe dennoch ein Dilemma: Was wird aus dem Altbestand? Wie schützt man Häuser in Ziegelbauweise, womöglich mit Baufehlern oder Schäden von früheren Erdbeben?

Erdbeben: Man kann Häuser vor dem Einsturz schützen

Das klingt nach der sprichwörtlichen "Eine-Million-Dollar"-Frage. Indes, sie ist längst beantwortet. Es ist die Frage, die Lothar Stempniewski 20 Jahre lang beim Institut für Massivbau und Baustofftechnologie (IMB) am Karlsruhe Institut für Technologie (KIT) umgetrieben hat; auch heute noch, zwei Jahre nach seiner Pensionierung, lässt sie ihn nicht los.

Stempniewski und seine Mitarbeiter haben eine Lösung gefunden, die nachweislich schützt, so einfach wie kostengünstig und längst auf dem Markt ist. EQ Grid, wie das Verfahren heißt, wird von einem Unternehmen aus dem bayrischen Sonthofen seit 2014 angeboten: von der Firma Günther Kast.

Erdbeben-Schutz: Methode an der Universität Karlsruhe entwickelt

Wer mit Stempniewski spricht, spürt die sich abwechselnden Emotionen, technische Begeisterung und Frust. Dies ist auch eine Geschichte über eine Idee, deren Zeit noch nicht wirklich gekommen ist. Denn die Vermarktung, erinnert sich bei Kast Vertriebsleiter Jeffrey van der Linden, "stellte sich zu Beginn ausgesprochen schwierig dar".

Seinen Studenten hat Professor Stempniewski das Verfahren in den Vorlesungen gern so erläutert: Es ist wie ein Gürtel, den man um ein Gebäude schnallt. Der hält das Ganze zusammen und verhindert, dass einzelne Teile fallen. "Das ist der Clou", sagt er unserer Redaktion.

Erdbeben: Schutz-Verfahren erfolgreich am Rütteltisch getestet

Es ist ein nach Herstellerangaben acht Millimeter dickes Gewebe, das in den Putz eingearbeitet wird. Nicht auf, sondern im Putz. Und direkt auf die Ziegel kommt. Damit wird ein Gebäude umwickelt. "Das kann jeder Gipser, jeder Putzer anbringen", so Stempniewski. Dazwischen darf keine Wärmedämmung sein, und Farbe muss gegebenfalls entfernt werden, falls sie kein Wasserdampf durchlässt, weil eine Wand sonst nicht atmen könnte und sich Schimmel bilden würde.

Wie aber kann er nur sicher sein, dass so ein Korsett um ein Haus auch schützt? Stempniewski lacht leise. Wahrscheinlich hat er diese Frage schon hundert Mal gehört. Zuerst haben sie Wände im Labor getestet. "Dann muss man auf einen Erdbeben-Rütteltisch", erzählt er. In Norditalien, bei Mailand, gibt es so eine Einrichtung, ebenso in Skopje in Mazedonien.

Da werden Gebäude im Maßstab eins zu zwei auf einer Plattform gebaut. Dann wird ein Erdbeben simuliert, die Daten zu Ablauf und Stärke der Erdstöße bekommt man von der Seismologie. Stempniewski hat seine Testgebäude vorgeschädigt, absichtlich abbruchreif gemacht. Weil dies der Realität in einem Krisengebiet entspricht: Dort hat fast jedes Haus irgendwann Erdstöße aushalten müssen.

Erdbeben: Eine Textil-Korsett hält das Gebäude zusammen

Stempniewski hat die Zuschauer am Rütteltisch beobachtet, das Wechselbad ihrer Gefühle. Die kleine Enttäuschung darüber, dass sie um das Schauspiel eines Kollapses gebracht wurden, und das pure Staunen. Es sei erst einmal verwunderlich, dass so ein einfaches System ein Gebäude zusammenhalten könne. "Die meisten sagen, "das kann gar nicht sein.“ Doch, kann es. Nicht ein Versuch ging fehl. Jedes Haus hielt den Stößen Stand.

Es sieht simpel aus. "Aber es hat noch niemand nachgemacht", erzählt er, "wir haben fast 20 Jahre daran geforscht." Es kommt nicht allein auf die richtigen Fasern, sondern auch darauf an, wie sie gewebt werden. "Auch der Mörtel muss eine ganz bestimmte Eigenschaft haben. Wir haben ziemlich lange daran gearbeitet." Es sein ein rein mineralischer Werkstoff, ohne Chemie drin. Auch interessant: Erdbeben in Türkei und Syrien: So leiden die Kinder

Das Verfahren wird seit Jahren vereinzelt angewandt. In Deutschland, Italien, in der Schweiz, in Österreich. Die Leute, die das Gewebe verwendet haben, "sind total begeistert", so Stempniewsk. Auch in der Türkei. Mitten in der Tragödie haben sie in der Firma Kast aufmerksam registriert,

  • dass in Hatay in der Erdbebenzone mehrere historische Gebäude, die mit EQ Grid ertüchtigt worden waren, die Katastrophe überstanden haben.
  • Gleiches erlebte man vor Jahren in Izmir: Die Gebäude hätten Beben ohne sichtbare Schäden überstanden, "während Gebäude in der gleichen Straße zum Einsturz gekommen sind", erzählt Geschäftsführer Christoph Kast.

Nebensache Erdbeben-Schutz: Gefahren werden schnell verdrängt

Das Verfahren ist erschwinglich. "Ganz grob gerechnet", rechnet Kast vor, betragen die Kosten für den Bauherren 60 Euro pro Quadratmeter. Bei einem Einfamilien-Haus mit rund 200 Quadratmetern würde man insgesamt auf 10.000 bis 20.000 Euro kommen. So viel wie etwa eine Heizung oder ein neues Dach kostet. Trotz des überschaubaren Aufwandes findet das System bisher keine massenhafte Anwendung, wie Stempniewski beklagt.

Bewohner und Helfer bei Aufräumarbeiten in der vom Erdbeben schwer getroffenen türkischen Stadt Antakya
Bewohner und Helfer bei Aufräumarbeiten in der vom Erdbeben schwer getroffenen türkischen Stadt Antakya © Reto Klar / FUNKE Foto Services | reto klar

Es ist immer noch ein Verfahren, das relativ unbekannt ist. So ein Gewebe, ein Textil, erzählt der Wissenschaftler, sei für viele beim Hausbau fremd. Es sei "ein erklärungsbedürftiges, hochtechnisches System", pflichtet Unternehmer Kast bei.

Aber da ist noch was anderes: Nach einer Katastrophe werden viele Debatten im Affekt geführt und gute Vorsätze gefasst. Danach aber verschwindet das Gefahrenbewusstsein schnell aus den Köpfen. "Das ist wirklich traurig", sagt Stempniewski.

Es muss erst etwas passieren, damit etwas passiert. Und fünf, sechs Jahre später ist ein Erdbeben schon wieder: lange her. Schutz und Sicherheit seien in den Köpfen der Menschen nur relevant, nachdem eine Tragödie passiert sei, erzählt Kast. "Wir erhalten Anfragen aus vielen Teilen der Welt", sagt er jetzt nach dem Beben in der Türkei. Die Frage ist, wie schnell das Interesse wieder erlahmen wird. Das könnte Sie auch interessieren: Türkei nach dem Erdbeben: Reise in ein traumatisiertes Land

Menschen vergessen, Menschen verdrängen Gefahren. Das ist eigentlich überall so, sogar in klassischen Erdbebengebieten. Selbst in Japan, wo man fast täglich Erdstöße spürt. "Das ist manchmal für mich frustrierend gewesen", sagt Stempniewski.

Im japanischen Kobe, wo die Erde 2013 bebte, hält man zu den Jahrestagen Zeremonien ab. Ein Grund ist das Gedenken, die Erinnerung an die Opfer, aber ein anderer ist: Das Gefahrenbewusstsein hochhalten, das Bewusstsein dafür, so Stempniewski, "dass da was im Boden schlummert".