Berlin. Viele Arbeiter träumen vom frühen Ruhestand. Warum die Rente so verlockend ist – und warum der Arbeitsmarkt die Älteren braucht.

Gunter Kießling ist Förster, verantwortlich für ein Gebiet nahe der sächsischen Kleinstadt Grimma. Wald und Jagd – nie habe er sich vorstellen können, in einem anderen Bereich zu arbeiten. Er habe sein Hobby zum Beruf gemacht, damals vor 44 Jahren. Noch immer merkt man ihm die Begeisterung an. Trotzdem, sagt der 60-Jährige, will er da raus. Raus aus der Arbeit, so bald wie möglich.

Gunter Kießling gehört zur Generation der sogenannten Babyboomer, den besonders geburtenstarken Jahrgängen. Heute stellen sie die meisten Erwerbstätigen, doch nur die wenigsten von ihnen wollen bis zum gesetzlichen Rentenalter im Job bleiben.

Laut einer aktuellen Befragung der Universität Wuppertal, die die Einstellung dieser Jahrgänge zu ihrer Arbeit seit 2011 untersucht, wollen mehr als 90 Prozent von ihnen vor dem 66. Lebensjahr in Rente gehen. Selbst unter denjenigen, die sich noch guter Gesundheit erfreuen, sind es mehr als zwei Drittel. Und das, obwohl den meisten die Arbeit viel oder sehr viel bedeute.

Menschen haben viele Gründe für den Wunsch nach Frührente

Gründe für den Wunsch, vorzeitig aus dem Job auszusteigen, gibt es viele. Manche hat die Arbeit zermürbt oder krank gemacht. Andere werden den Vorgaben ihrer Firma nach Personalabbau gerecht. Auch politische Anreize spielen eine Rolle. Wenn einem ein Land die Frühverrentung schmackhaft macht und sie als „Lohn für die Lebensleistung“ bezeichnet, dann nimmt man das oft an – wenn man es sich denn leisten kann.

Was jedoch häufig übersehen wird: „Für viele wird anderes einfach wichtiger“, sagt Studienkoordinatorin Melanie Ebener von der Uni Wuppertal. Sie glaubten, genügend geleistet zu haben. Sie würden abwiegen, wofür Zeit und Kraft noch reichen. Das Bild vom Rentner in der karibischen Sonne treffe dabei nur selten zu, sagt Ebner.

Die meisten widmeten sich anderen Aufgaben, pflegten den Partner oder kümmerten sich um die Enkel. Entscheidend sei auch das Umfeld, so Ebener. Wenn die Menschen um einen herum meinten, „so früh raus wie möglich“, bestärke das den Wunsch.

„Man ist mit dem Alter weniger bereit, Abstriche zu machen.“

Das aber sei nur ein Teil der Wahrheit, sagt Heike Heidemeier vom Institut für Psychologie, Personal- und Organisationspsychologie der Universität Aachen. Für viele werde anderes als Arbeit bedeutsamer, weil sie immer weniger im Job halte. „Man ist mit dem Alter weniger bereit, Abstriche zu machen.“

Am Anfang der Karriere seien die äußeren Faktoren wichtig – Geld, Chancen, Abwechslung. Irgendwann, so Heidemeier, rückten andere Bedürfnisse in den Vordergrund: etwas Sinnvolles zu bewirken, wertvolle Beziehungen zu haben, selbstverantwortlich zu handeln.

Bei vielen träten dann lange unterdrückte Wünsche zutage. „Wer Geschichte studiert hat, um Historiker zu werden, aber als Lehrer arbeitet, empfindet das zunehmend als unbefriedigend“, sagt die Psychologin. Je mehr einem bewusst werde, dass das Leben kurz sei, desto mehr wolle man Erfüllendes tun. „Wenn sich dann die eigenen Wertvorstellungen kaum mit dem Beruf unter einen Hut bringen lassen, wird das Verlangen nach etwas anderem stärker.“

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Oft fehlen Struktur, Kontakt oder Anerkennung

Das kann auch der Forstbeamte Gunter Kießling bestätigen. „Es gibt so vieles, was ich noch tun will. Mich mehr um den eigenen Wald, die Bienen, die Familie kümmern.“ Solange er noch die Energie dafür habe, wolle er die nächsten Jahre unabhängig gestalten. Natürlich, fügt er hinzu, spiele auch seine Unzufriedenheit mit der Arbeit eine entscheidende Rolle. Die Forstwirtschaft mache heute viel „Mist mit dem Wald“.

Viele Ältere verspüren dann sogar noch einmal den Wunsch nach einem neuen Job. So gaben knapp 62 Prozent der Mitt- und Endfünfziger in der Wuppertaler Studie an, sie hätten gern in den vergangenen vier Jahren den Arbeitgeber gewechselt. Diejenigen, denen es gelang, wollten deutlich häufiger bis zur Regelrente arbeiten. Für die anderen, so Heidemeier, erscheine die Frührente dann als: Notwehr.

Der Ruhestand – ob frühzeitig oder regulär – bringt jedoch oft nicht die Befriedigung, die sich viele erhoffen. Die Altersforscherin Ursula Staudinger hat in einer Studie festgestellt, dass viele Arbeitnehmer sich vor der Rente positiver darüber äußerten als ein Jahr danach. Manchen fehlt offenbar der strukturierte Tagesablauf, der Kontakt zu Kollegen, die Anerkennung.

Und selbst wenn man berücksichtigt, dass es oft die Kranken sind, die vorzeitig gehen, bleiben die Ergebnisse eindeutig, sagt Staudinger. Die Vorstellung, mit dem Abschied aus der Arbeitswelt beginne automatisch ein schöneres Leben, sei oft falsch.

Fachkräftemangel – Unternehmen brauchen die Erfahrenen

Der Abschied könne nur zufrieden machen, wenn man genau wisse, wie man die unerfüllten Bedürfnisse befriedigen könne, etwa indem man sich in einem Verein engagiere, sagt auch Psychologin Heidemeier. Andernfalls könne das Gegenteil eintreten: „Arbeit sollte daher möglichst lange unsere Bedürfnisse befriedigen.“ Im Interesse vieler.

Denn angesichts des Fachkräftemangels müssen auch die Unternehmen dafür sorgen, die älteren Mitarbeiter so lange wie möglich bei der Stange zu halten. Wie das gelingen kann, erklärt Hugo Kehr von der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften an der TU München.

„Auch Arbeitgeber müssen erkennen, dass sich mit dem Alter die Ansprüche ihrer Mitarbeiter verändern.“ Natürlich sei die Arbeitswelt kein Schlaraffenland, oft würden jedoch schon Kleinigkeiten einen Unterschied machen.

Arbeitsmarkt floriert, lebenslanges Lernen wird gefördert

Wer es nicht möge, etwas vor anderen zu präsentieren, nehme das lange zähneknirschend hin, irgendwann jedoch nicht mehr. „Ist der Chef sensibel, übergibt er die Aufgabe an einen anderen, der das vielleicht schon immer machen wollte“, so Kehr. Was für den einen die zu schluckende Kröte sei, könne für den anderen zur Delikatesse werden.

Grundsätzlich, sagt Psychologin Heidemeier, stünden die Chancen für ein befriedigendes langjähriges Arbeitsleben gut. Der Bildungsgrad steigt, lebenslanges Lernen wird gefördert, der Arbeitsmarkt floriert. Bildung sei maßgeblich, damit Arbeit Bedürfnisse befriedige. Dennoch dürfe man den Wunsch, früher aus der Arbeitswelt auszuscheiden, nicht verharmlosen. Vor allem, wenn ein körperlich anstrengendes Arbeitsleben hinter den Menschen liege.