Berlin. In Ost- und Nordsee liegt eine gewaltige Menge Munition aus dem Zweiten Weltkrieg. Sie ist eine Belastung – nicht nur für die Umwelt.

Der Meeresboden von Ost- und Nordsee ist an vielen Stellen übersät mit tickenden Zeitbomben. „In der Kieler Bucht liegt in Sichtweite beliebter Strände Torpedokopf neben Sprengmine“, sagt der Meeresbiologe Matthias Brenner vom Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI).

Der Großteil davon stammt aus dem Zweiten Weltkrieg. Allein auf deutschem Gebiet sollen insgesamt 1,6 Millionen Tonnen an konventionellen Waffen und 300.000 Tonnen chemischer Waffen in Ost- und Nordsee liegen. „Das ist gewaltig, was da liegt“, sagt Brenner.

Beim Bau von Piplines und Windparks werden immer wieder Minen gefunden

Im Auftrag der Alliierten sollten Fischer nach dem Zweiten Weltkrieg die Kampfmittel weit draußen auf See versenken. Nach Angaben des Fraunhofer-Instituts ist viel Munition aber auch außerhalb der markierten Gebiete über Bord gekippt worden – womöglich um Treibstoff zu sparen.

Durch Meeresströmungen und Grundschleppfischerei landeten Minen und Bomben auch an Orten, wo sie eigentlich nie hinsollten. Das macht es schwierig, sie heute wiederzufinden. Beim Bau von neuen Pipelines oder Off-Shore-Windparks stoßen Unternehmen nicht selten auf solche Kampfmittel.

Folgen für die Umwelt sind erheblich

70 Jahre lang habe es kaum jemanden interessiert, was in den Meeren vor sich hin rostet. „Am besten rührt man es nicht an. Das zersetzt sich sowieso, hieß es lange“, sagt Brenner. Dass das falsch war, sehe man heute: Viele Bomben können immer noch explodieren.

Mit der Zeit werden sie sogar immer empfindlicher. Eine geringe Druckänderung oder ein Schlag kann sie zum Explodieren bringen. „Die Munitionskörper sind teilweise komplett verrottet. Aus anderen tritt Sprengstoff aus“, sagt Brenner. Diese giftigen Substanzen gelangen ungehindert ins Meer. Die Folgen für die Umwelt sind erheblich.

Spuren von chemischen Waffen sind in Fischen nachweisbar

Mehrere Fachinstitute, darunter das AWI und das Thünen-Institut für Fischereiökologie, haben in dem Projekt „Chemsea“ vor einigen Jahren die Auswirkungen von chemischen Waffen auf die Umwelt erforscht.

Wie Meeresbiologe Brenner sagt, konnten bei zehn bis 13 Prozent des Speisefisches Ostseedorsch Stoffe von chemischen Waffen im Filet nachgewiesen werden. Die Menge sei zwar gering. „Es kann aber sein, dass so ein Fisch auch auf dem Teller landet“, sagt er. Inwiefern diese geringen Mengen Auswirkungen auf den Verbraucher haben, sei noch nicht erforscht.

Gefahren durch alte Munition werden immer größer

Im Februar endet das Nachfolgeprojekt „Daimon“ („Decision Aid for Marine Munitions“). Ein Ergebnis: Die Gefahren durch die Weltkriegsmunition werden künftig immer größer. Dies hätten Feldversuche in der Kieler Bucht gezeigt, sagte Toxikologe Edmund Maser am vergangenen Donnerstag in Bremerhaven auf der „Daimon“-Abschlusskonferenz.

Sobald die Metallhüllen von Bomben oder Granaten weggerostet seien, strömten umso mehr schädliche Substanzen ins Gewässer. Diese würden nachweislich von den Meeresbewohnern aufgenommen und landeten somit auch beim Verbraucher.

Maser und sein Team hatten Muscheln in die Nähe von wenig durchgerosteten Minen gehängt und zum Vergleich an frei liegenden Sprengstoffen. „In dem letzteren Gebiet haben wir einen 50-fach höheren Eintrag von chemischen Substanzen in den Muscheln gemessen. Das war auch für uns sehr überraschend“, sagte Maser.

Deutlich höhere Zahl von Lebertumoren bei Fischen

Das Thünen-Institut hat den Plattfisch Kliesche unter die Lupe genommen, der am Meeresboden in der Kieler Bucht lebt. In diesem Gebiet liegen etwa 35.000 Tonnen konventioneller Munition wie Thomas Lang, stellvertretender Leiter des Instituts, sagt.

Bei 25 Prozent der Exemplare fanden die Forscher Lebertumore. In unbelasteten Gebieten liegt die Quote dagegen bei nur fünf Prozent. „Am Boden gibt es TNT-Klumpen, die sich im Wasser lösen. Die Abbauprodukte gelangen über das Wasser oder die Nahrung in den Organismus“, sagt Lang.

Laborversuche haben gezeigt, dass die Abbauprodukte von TNT die DNA von Fischen schädigen, was eine mögliche Erklärung für die hohe Tumorrate sei. Gefischt und vermarktet werde die Kliesche allerdings nicht, sodass für den Menschen keine Gefahr bestehe.

Verfahren zum Aufspüren von Munition ist teuer

Ein Zusammenschluss aus Forschungseinrichtungen und Firmen entwickelt mit dem Netzwerk Munitect zurzeit ein System, um Altmunition besser aufzufinden und zu kartieren. Mit Sonartechnik und Magnetsonden kann der Kriegsschrott heute schon recht gut aufgespürt werden.

Allerdings seien diese Verfahren so teuer, dass sie nur stichprobenartig und in vorher bestimmten Gebieten eingesetzt werden können, heißt es auf der Webseite des Netzwerks, welches vom Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung (IGD) koordiniert wird.

Bei diesen Stichproben werde fälschlicherweise auch herkömmlicher Schrott aufgespürt. „Die genaue Identifizierung von gefährlichen Minen und Munitionskörpern ist sehr schwierig und wird sehr oft heute noch von Tauchern durchgeführt“, erklärt Kristine Bauer, Netzwerkkoordinatorin am Fraunhofer-IGD. Munitect habe das Ziel, in Zukunft größere Bereiche effizienter und treffsicherer absuchen zu können.

Sprengkörper müssen notfalls gesprengt werden

Oft werden die gefundenen Sprengkörper an Land gebracht und fachgerecht beseitigt oder – wenn sie nicht mehr transportfähig sind – gesprengt. Schon geringe Druckänderungen können die Bomben zum Explodieren bringen. „Dass der Kampfmittelräumdienst die Bomben irgendwohin transportiert und dann im Meer sprengt, ist nicht in unserem Sinne“, sagt Brenner.

Die Giftstoffe würden nur großflächig in der See verteilt. „Was in die Ostsee hineinkommt, bleibt eben in der Ostsee“, sagt er. Zudem bedeute jede kontrollierte Sprengung auch Lärmschäden für die Tierwelt. In Ost- und Nordsee leben etwa auch Schweinswale und Seehunde. „Wir postulieren, dass emissionsfrei geborgen wird“, sagt Brenner.

Entschärfung schon am Meeresgrund

Das Fraunhofer-Institut und die Universität Leipzig arbeiten gemeinsam mit Partnern aus der Wirtschaft an genau solch einer Lösung. Zukünftig soll ein Roboter Munition am Meeresgrund vollautomatisch entschärfen und ohne Sprengung entsorgen. Die Maschine soll anschließend nur mit Metallschrott an Land zurückkehren können.

Kampfmittelräumdienste wie das Unternehmen Boskalis Hirdes arbeiten heute schon mit ferngesteuerten Unterwasserrobotern mit Kameras. Diese legen die Kampfmittel frei, Fachleute begutachten sie und entscheiden, was mit ihnen passieren soll. Ziel sei es, den Menschen ganz aus der Räumung herauszunehmen.

Das Unternehmen will ein Konzept des robotischen Bergungs- und Entsorgungsverfahrens (RoBEMM) im März vorstellen. Wie Andreas Jeron von Boskalis Hirdes sagt, sollen mit RoBEMM nicht transportfähige Kampfmittel geräumt werden, die derzeit noch vor Ort gesprengt werden müssen. „Mit weniger negativen Auswirkungen auf die Umwelt.“