Berlin. Viele Millionen Tonnen von Lebensmitteln landen in Deutschland jedes Jahr im Müll. Der WWF fordert eine Strategie gegen Verschwendung.

Mehr als 18 Millionen Tonnen Lebensmittel pro Jahr landen in Deutschland einer Studie der Natur- und Umweltorganisation WWF zufolge im Abfall. Fast fünf Millionen davon könnten Privathaushalte vermeiden. Valentin von Massow, 59, der neue Chefaufseher der WWF-Stiftung, fordert die Bundesregierung und den Verbraucher dazu auf, der Verschwendung den Kampf anzusagen. „Ein Land wie Deutschland muss die Initiative ergreifen“, sagt der Agrarökonom.

Vor etwa einem Jahr hat der WWF die erste große Studie zur Lebensmittelverschwendung in Deutschland vorgelegt. Warum?

Valentin von Massow: Landnutzung und Lebensmittelverschwendung sind seit vielen Jahren WWF-Kernthemen. Wir haben sieben Milliarden Menschen auf der Erde, und noch immer
ist der Hunger nicht besiegt. Es gibt Konflikte in der Landnutzung zwischen Mensch und Natur, insbesondere unter Berücksichtigung von Klimaeffekten. Wenn wir weltweit ein Drittel der für Ernährung eingesetzten Ressourcen durch Verschwendung verlieren, wir aber bald neun Milliarden Menschen ernähren müssen, ist das ein großes Problem. Da die Bundes­regierung dieses Problem nicht energisch genug angeht und die Daten­lage für Deutschland nicht hinreichend ist, haben wir unsere Aktivitäten intensiviert.

Warum sind die Daten ein Problem?

Massow: Deutschland hat sich verpflichtet, bis 2030 die Verschwendung zu halbieren. Wir wissen aber gar nicht, von welcher Menge wir ausgehen. Es gibt bis heute keine verantwortliche Koordinierungsstelle. Wir fordern diese seit Langem. Produzenten, Großverbraucher und Handel müssen saubere Zahlen erheben, denn es gibt Verluste bei Produktion, Ernte, Transport, Verarbeitung und beim Konsum.

Welche Daten beinhaltet denn Ihre Studie?

Massow: Der erste Teil ist eine Metastudie und gibt den aktuellen Kenntnisstand der Wissenschaft wieder. Belastbare Zahlen sind für Deutschland jedoch schwer zu bekommen, Schätzungen leider noch immer ein probates Mittel. Der WWF-Studie liegen, um nicht angreifbar zu sein, zurückhaltende Zahlen zugrunde. Auf deren Basis haben wir durchgerechnet, wie viel Ackerfläche benötigt worden ist, um die Menge der Lebensmittelverluste zu produzieren, und wie hoch der Klimafußabdruck ist.

Zu welchen Ergebnissen sind Sie dabei gekommen?

Massow: Der Bundeslandwirtschaftsminister hat von 82 Kilogramm weggeworfenen Lebensmitteln pro Kopf und Jahr in Deutschland gesprochen, unsere Zahlen gehen in Richtung 120 bis 140 Kilogramm. Bei konsequenter Vermeidung könnten wir den Flächen­fußab­druck unserer Ernährung um 2,6 Millionen Hektar senken, das ist die Größe von Mecklenburg-Vorpommern und dem Saarland zusammen.

Warum werfen wir so viel weg?

Massow: In Deutschland sind Nahrungsmittel nicht nur im Vergleich zum Gesamteinkommen billiger geworden, sie sind auch in der allgemeinen Wertschätzung gesunken. Da gibt es keine spezifischen Schuldigen, aber wir müssen diesen Trend umkehren. Die Zusammenhänge von Verschwendung, Klimaschäden und Flächenverbrauch zulasten der Natur sind den Menschen nicht klar genug.

Wie kann man das verdeutlichen?

Massow: Der WWF, die öffentliche Hand, aber auch Schulen, Medien und Unternehmen haben einen Informationsauftrag. Diesen müssen alle ernst nehmen. Es geht dabei nicht um Positionen, sondern erst einmal nur um Information. Wenn wir so weitermachen wie bisher, sind wir letztlich alle die Verlierer. Der Handel kann und sollte eine besondere Rolle spielen, da er sowohl die Lieferketten als auch uns Verbraucher positiv beeinflussen kann.

Wie hoch ist das Interesse des Handels, dass wir weniger wegwerfen?

Massow: Da werden mitunter Fehlanreize gesetzt. Ein Beispiel aus London, wo ich zuletzt gelebt habe: Es gab frische Salate, vorgewaschen, verpackt in großen Portionen, drei für den Preis von zwei. Das nehmen natürlich viele gern mit, aber oft verfault eine Packung. So etwas ist bei kleiner werdenden Haushalten absurd. Im Zweifelsfall hat der Handel da ein Problem elegant auf den Endkunden abgewälzt, weil er bestellte Kontingente noch rechtzeitig nach außen drückt. Produkte mit engen Haltbarkeitsterminen sollten so nicht vermarktet werden. Aber letztlich dürfen wir den Schwarzen Peter nicht nur dem Einzelhandel zuschieben. Die Rahmenbedingungen müssen stimmen.

Brauchen wir neue Gesetze?

Massow: Der Landwirtschaftsminister sollte Handel, Verarbeiter und Produzenten an einen Tisch holen und das Problem zu einem Problem aller machen. Die Bundesregierung hat sich gerade in den vergangenen Monaten eindeutig positioniert. Es gibt das klare Ziel, die Verschwendung bis 2030 zu halbieren. Wir stehen nur ein Jahr vor Ende der Legislaturperiode. Daher muss endlich personell und finanziell ein Signal gesetzt werden. Es braucht eine nationale Strategie gegen Lebensmittelverschwendung, und man sollte gezielt Vorschläge zur Umsetzung einfordern.

Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt hat angekündigt, das Mindesthaltbarkeitsdatum abschaffen zu wollen, das ist doch ein Ansatz.

Massow: Die Auszeichnung der Lebensmittel zu überarbeiten und zu differenzieren, halte ich für richtig. In vielen Fällen würde ein Herstellungsdatum genügen. Bei leicht verderblichen Lebensmitteln, wie etwa rohem Fleisch, muss man den Menschen hingegen Gefahrenpotenziale durchaus klarmachen.

Auch intelligente Verpackungen sollen dazu beitragen, das Problem zu mindern.

Massow: Wenn ein Minister sagt, in drei Jahren haben wir eine Technik, die die Probleme löst, bin ich erst mal skeptisch. Technologie ist eine Option, die wir einsetzen können und müssen, letztlich ist der höhere Kenntnisstand beim Verbraucher aber das beste und wirkungsstärkste Mittel.

Wo und wie könnten Forschung und Technik helfen?

Massow: Wir können Technologie intelligenter einsetzen, damit sie mir sagt, wann ein Produkt tatsächlich verfallen ist. Und wir können mit ihr dafür sorgen, dass wichtige Informationen auf Produkten besser erfassbar sind. Auf manchen Packungen steht ja eine Menge drauf, nur so klein, dass wir es nicht mehr lesen können.

Wissen Sie von großen Innovationen, die an der Schwelle zur Marktreife stehen?

Massow: Wenn wir über intelligente Verpackung sprechen, stehen wir, im Vergleich zu erneuerbaren Energie oder gar der Automobiltechnologie, noch am Anfang. Aber wir sind in der Verknüpfung von Technik sehr weit. Ich bin sicher, wir könnten da sehr viel rausholen. Kleinstsensoren werden immer billiger. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es da keine Lösungen gibt. Politik und Gesellschaft müssen den Kampf gegen Verschwendung aber als verbindliches, nicht wegzudiskutierendes Ziel formulieren. Dann fängt die Industrie auch an, in Lösungen und Innovationen zu investieren.