Berlin. Kommt es zu einem Unfall in den Offshorewindparks ist die Offshorerettung gefragt. Den Notfallsanitätern hilft dabei die Telemedizin.

Die Techniker, Monteure und Ingenieure in den Offshorewindparks der Nordsee haben einen harten Job: Sie arbeiten unter Wasser, hantieren mit Starkstrom oder klettern in schwindelerregende Höhen. Sie bauen und warten die Anlagen mit bis zu 100 turmhohen Windrädern, die mitten im Meer liegen, teils mehr als 100 Kilometer vor der Küste. Der Job ist schon bei ruhigem Wetter gefährlich – auch, weil bei einem Unfall gewöhnlich höchstens ein Notfallsanitäter vor Ort ist, aber kein Arzt.

An den Februar 2015 erinnert sich Rüdiger Franz vom Klinikum Oldenburg, Ärztlicher Leiter der Offshorerettung, noch gut. Das Sturmtief „Felix“ zog über die Deutsche Bucht, mit acht Meter hohen Wellen und Windgeschwindigkeiten von 140 Kilometern pro Stunde. Ein Techniker stürzte bei Arbeiten an einem Umspannwerk von einer Leiter und erlitt tiefe Schnittwunden am Arm. An Land wäre er sofort operiert worden. Doch bei dem heftigen Sturm war ein Rettungseinsatz mit dem Hubschrauber für die Helfer zu gefährlich. Der in St. Peter-Ording stationierte WINDEAcare-Helikopter von Northern HeliCopter (NHC), den die Notfallleitstelle gewöhnlich zu solchen Einsätzen losschickt, hätte das Umspannwerk zwar anfliegen und wohl auch auf dessen Heli-Deck landen können. Die Retter hätten den Verletzten aber kaum an Bord nehmen können. Zu groß war die Gefahr, dass Windböen sie samt Patient in die Nordsee geweht hätten.

Per Videoverbindung werden Vitaldaten übermittelt

Die Wartezeit überbrückte der Notfallsanitäter der Johanniter-Unfall-Hilfe in der Erste-Hilfe-Station vor Ort, indem er sich per Video- und Audioverbindung mit den Notfallmedizinern aus Oldenburg abstimmte und die medizinischen Daten des Patienten – darunter Puls, Blutdruck, Sauerstoffsättigung des Blutes und Atemfrequenz – übermittelte. So konnten sich die Mediziner dort einen direkten Eindruck vom Zustand des Patienten verschaffen und die Versorgung anleiten.

Der Sanitäter folgte ihren Anweisungen, führte eine Wundversorgung durch, verabreichte Schmerzmittel und Antibiotika und verhinderte so eine mitunter folgenschwere Infektion der Wunde. Bis das Wetter den Start des Rettungshubschraubers erlaubte, vergingen rund fünf Stunden. „Hätte es länger gedauert, wäre es für die Hand des Patienten kritisch geworden“, sagt der Anästhesist Franz, der die Offshorerettung auf der Nordsee medizinisch verantwortet. Seit 2011 bietet das WINDEAcare-Konzept für Offshorewindkraftanlagen, an dem neben dem Klinikum Oldenburg weitere Beteiligte mitwirken, Hilfe für Menschen auf Schiffen oder Windkraftanlagen in der Nordsee. Finanziert wird es von den Windparkbetreibern, zu denen unter anderem die großen Energiekonzerne zählen. „Die Betreiber sind für die Sicherheit und medizinische Versorgung der Beschäftigten verantwortlich“, sagt Franz. Braucht jemand medizinische Hilfe, läuft der Einsatz über die Notfallleitzentrale in Berne bei Bremen. Sie ist rund um die Uhr mit mindestens einem Notfallsanitäter und einem Nautiker besetzt. Das Team betreut eine riesige Region, die von der niederländischen Küste bis nach Dänemark reicht. Zehn Windparks und fünf Umspannwerke liegen dort. Im ganzen Einsatzgebiet arbeiten oft etwa 2000 Menschen, gerade im Sommer beim Errichten neuer Anlagen, erklärt Franz.

Oft wird das Risiko für die Crew gegen ihren Nutzen abgewogen

Erschwert wird die Arbeit der Helfer durch die großen Distanzen der verstreut liegenden Anlagen. Anders als auf einer Öl- oder Gasplattform im Meer sind die Beschäftigten in einem Windpark nicht an einem Punkt versammelt, sondern in einem weiten Gebiet verteilt – auf Umspannwerken oder Schiffen, auf denen sich mitunter 100 oder mehr Menschen aufhalten.

Bei der Entscheidung, ob sie den Offshorerettungshubschrauber losschickt, muss die Zentrale abwägen: das Risiko der Crew während des Einsatzes gegen den Nutzen für den Patienten. Können Retter nicht zum Einsatzort ausrücken – wie etwa im Februar 2015 während des Sturms –, ermöglicht die vom Klinikum Oldenburg angebotene Telemedizin die Behandlung über große Distanzen.

Telemedizin – eine Art der Ferndiagnose und -behandlung – gibt es seit knapp 40 Jahren: Umfangreiche Projekte mit Kliniken gab es schon in den 70er-Jahren etwa in Schweden und Norwegen. Damals konnten Rettungskräfte per Sprechfunk gezielt Kontakt mit Ärzten aufnehmen, die auf solche Einsätze spezialisiert waren. Zusätzlich konnten sie bereits damals etwa EKG-Daten übertragen. Die Ärzte in den Krankenhäusern konnten so neben den per Funk durchgegebenen Beschreibungen auch aktuelle Informationen zu den Patienten auswerten. Heute nutzen Helfer schnelle digitale Verbindungen, per Satellit klappt das meist auch auf hoher See problemlos.

Der Offshoreeinsatz beweist, dass die Telemedizin funktioniert. Auf See bietet die Telemedizin entscheidende Vorteile: Patienten können bei kleineren Verletzungen mitunter in den Windparks bleiben, sodass Transportkosten entfallen. Unter Umständen müssen die Ärzte im Klinikum Oldenburg dann – Hunderte Kilometer vom Patienten entfernt – über lebensrettende Maßnahmen entscheiden: Wie lange kann der Patient durchhalten? Muss er an Land gebracht werden?

Fast jeden zweiten Tag starten die Offshoreluftretter in St. Peter-Ording, meist zu Trainingszwecken, um die Abläufe bei verschiedenen heiklen Einsätzen zu üben. Echte Notfalleinsätze flog der Rettungshubschrauber voriges Jahr 84-mal. Vom Alarm bis zum Anlassen des Helikopters vergehen bei den Offshorerettern acht Minuten bei Tag, nachts maximal 17 Minuten. An Land braucht die Hubschrauberbesatzung höchstens zwei Minuten, muss aber auch weniger Vorkehrungen treffen – etwa Überlebensanzüge und Klettergurte anlegen oder vor dem Start das Wetter entlang der Flugroute überprüfen und die Route festlegen.

Im Winter wird es für die Spezialisten ruhiger

Im Winter werden die Aufträge in der Nordsee und damit auch die Rettungseinsätze rarer, da in den Windparks weniger gebaut wird. Im vergangenen Dezember musste das Notfallteam lediglich viermal ausrücken. An Bord des robusten Spezialhelikopters, der für Einsätze ähnlich wie ein Militärhubschrauber ausgerüstet ist, sind neben den beiden Piloten und dem Notarzt ein Notfallsanitäter und ein Windenführer. Bei Stürmen brauchen sie starke Nerven, und gerade in Extremsituationen müssen alle Abläufe aufeinander abgestimmt sein. Im Hubschrauber tragen die Helfer Sicherheitswesten, Helme und Kälteschutzanzüge, die sie bei einem Notfall über der kalten Nordsee schützen sollen, erklärt NHC-Betriebsleiter Herbert Janssen. Bei guten Wetterbedingungen erreichen sie jeden Einsatzort in der Nordsee innerhalb von rund 40 Minuten. Bei Sturm, Gewitter oder Vereisungen kann auch deutlich mehr Zeit vergehen.

Die Einsätze mit dem Hubschrauber sind auch für Spezialisten technisch und menschlich anspruchsvoll: „Besonders wenn man sich abseilen muss oder auf kleinen Schiffen landen will“, sagt Janssen. Windböen oder auch klirrende Kälte sind nur zwei von vielen Herausforderungen in diesem speziellen Umfeld. „Für diesen Job braucht man schlichtweg die Besten.“ (dpa)