Wolfsburg. In Woche eins des proklamierten Neustarts des deutschen Fußballs wird deutlich, dass es um sehr viel mehr als nur um gute Ergebnisse.

An diesem Freitag ist noch einmal Großkampftag in Wolfsburg. Gegen 10 Uhr wird die deutsche Nationalmannschaft am Werk vom neuen Hauptsponsor erwartet. Deutschlands Fußballfacharbeiter sollen nach dem 1:1 gegen Serbien nun auch noch lernen, wie Wolfsburgs VW-Facharbeiter ein Auto bauen. Stationen sind die Lackiererei und der Karosseriebau. 90 Minuten lang wird die Werksführung dauern. Plus Nachspielzeit. Es werden hübsche Fotos gemacht, ein Imagefilm gedreht und natürlich sollen die Herren Nationalspieler auch mit den „ganz normalen Mitarbeitern“ (O-Ton eines VW-PR-Mitarbeiters) ins Gespräch kommen.

Am Ende des Besuchs, so die allgemeine Hoffnung, sollen dann die zuletzt leidgeprüften Fußballer und die nicht weniger leidgeprüften Dieselskandal-Autobauer gleichermaßen profitieren. Es könnte eine „Win-win-Situation für zwei Image-Looser der vergangenen Jahre“ werden, wie die „Frankfurter Rundschau“ dieser Tage titelte.

Nun, Win-win-Situationen hat es im deutschen Fußball in der jüngeren Vergangenheit nicht allzu viele gegeben.

Grindel hinterließ einen kommunikativen Scherbenhaufen

Bevor sich das seit Monaten kriselnde DFB-Team am vergangenen Montag in der niedersächsischen Autostadt traf, lagen wieder einmal harte Tage hinter der Nationalmannschaft. Bundestrainer Joachim Löw hatte die Weltmeister Jerome Boateng, Mats Hummels und Thomas Müller nach drei Fünf-Minuten-Gesprächen aussortiert, was weder den drei Degradierten noch ihrem Club, dem FC Bayern, so richtig gefiel. Und auch DFB-Präsident Reinhard Grindel war von der Art und Weise nicht wirklich angetan, was er erst aus dem fernen Miami kundtat, dann wieder zurücknahm und schließlich ein Dreivierteljahr nach dem WM-Aus in Russland einen kommunikativen Scherbenhaufen hinterließ. Und als wenn das nicht schon alles schlimm genug wäre, machte der oberste Fußballlehrer der Nation auch noch dicke Backen und hatte Zahnschmerzen.

„Schlimmer wird’s nimmer“, würde HSV-Investor Klaus-Michael Kühne wohl sagen, wenn man den meinungsstarken Milliardär nun auch noch zum Zustand der Nationalmannschaft befragen könnte.

Nationalmannschaft will näher an die Fans

Fragte man aber Familie Jaeger, dann bekam man zum Anfang dieser Nationalmannschaftswoche ganz andere Antworten. Richtig klasse finde er, dass man der Nationalmannschaft so nahe kommt, sagte der zehnjährige Tamino, der in kompletter Deutschlandmontur am Montag zum öffentlichen Training der Nationalmannschaft ins AOK-Stadion kam. „Wir wollen wieder bodenständig werden und näher an die Fans“, sagte DFB-Manager Oliver Bierhoff vielversprechend. „Ich will zusammen mit der Mannschaft wachsen und die Nähe zu den Fans suchen.“

Nun ist der Spagat zwischen Nähe und Distanz oftmals nicht ganz einfach. In der Nacht zum Mittwoch machten ein paar Wolfsburger Fußballfans auf ihre Art und Weise deutlich, was sie von den illustren Gästen im schicken Ritz Carlton gegenüber von der Volkswagen Arena hielten. „Fick Dich DFB“, stand beispielsweise auf einem Plakat an einer Fußgängerbrücke quer über die Braunschweiger Straße stadtauswärts. Auch am Nordkopftunnel, am alten VfL-Stadion am Elsterweg und an der Berliner Brücke hingen Transparente mit deutlichen Protestbotschaften. Insgesamt wurden 40 Plakate im gesamten Wolfsburger Stadtgebiet gesichtet.

Pfiffe zur Halbzeit

Im Stadion am Mittwoch waren dann aber weder die Anti-DFB-Raufbolde sichtbar noch die begeisterten Besucher des öffentlichen Trainings mit ihren Klatschpappen hörbar. Nach der schwachen ersten Halbzeit gegen Serbien schienen die Wolfsburger bereits genug vom proklamierten Neustart der Nationalmannschaft zu haben und ließen ihren Unmut durch ein lautstarkes Pfeifkonzert zur Halbzeit raus. Als das durch Marco Reus verstärkte Löw-Team dann aber Serbien im zweiten Durchgang schwindelig spielte, war die Sehnsucht nach der alten „Schland“-Stimmung wieder zum Greifen nahe. Am Ende, nach dem verdienten 1:1, wurden die Nationalspieler mit freundlichem Applaus in die Wolfsburger Nacht entlassen.

Es passte zu dieser ambivalenten Stimmungslage, dass es ausgerechnet Ilkay Gündogan war, der kurz vor Mitternacht als letzter Nationalspieler noch von Kamerateam zu Kamerateam im Bauch der VW-Arena dribbelte. Der Profi von Manchester City war weder der beste Spieler (Reus) noch der Torschütze zum 1:1 (Goretzka), aber dennoch der meist gefragteste Gesprächspartner. Und Schuld am allgemeinen Interesse hatte lediglich ein kleines Stück Stoff.

Gündogans Stolz auf das Kapitänsamt

„Ich war natürlich stolz und habe die Binde voller Respekt angenommen“, beantwortete Gündogan die Frage, warum ausgerechnet er nach der Auswechslung von Kapitän Manuel Neuer die deutsche Mannschaft in der zweiten Halbzeit auf das Feld führte. „Das ist ein kuriose Wende irgendwie nach dem, was in den vergangenen Monaten so alles passiert ist und wie es abgelaufen ist“, sagte Gündogan dann auch noch.

Mit „dem, was in den vergangenen Monaten so alles passiert ist“ dürfte Gündogan das letzte Länderspiel gemeint haben, nach dem er Gesprächsthema Nummer eins gewesen ist. Es war der 9. Juni 2018 in Leverkusen. Und schon damals, beim schmeichelhaften 2:1 gegen Saudi-Arabien, hatte der England-Legionär weder getroffen noch war er der spielentscheidende Akteur gewesen. Viel mehr wurde Gündogan, der kurz zuvor durch das gemeinsame Foto mit Türkei-Despot Recep Tayyip Erdogan für Schlagzeilen gesorgt hatte, lautstark ausgepfiffen. Von den eigenen Fans.

Rassismusdebatte rund um die WM

Es folgte eine vorsichtige Debatte über Fremdenfeindlichkeit vor der WM, die nach der WM zum beherrschenden Diskussionsthema Deutschlands mutierte. So twitterte Mesut Özil bei seinem fatalistischen Rundumschlag gegen den DFB, die Nationalmannschaft und Fußball-Deutschland, dass er, habe die Mannschaft gewonnen, als Deutscher gegolten habe, bei einer Niederlagen aber der ewige Türke geblieben sei.

Es war der Anfang vom Ende von „der Mannschaft“, die 2010 als „Multikulti-Truppe“ die Herzen aller Fans auf und abseits des Fußballplatzes im Sturm eroberte, und die sich 2014 in Brasilien mit dem WM-Titel krönte. Nach der WM in Russland ging es plötzlich weniger um Fußball sondern viel mehr um Rassismus. Und der DFB, der 2010 noch einen Werbespot mit den Eltern einiger Nationalspieler mit Migrationshintergrund unter dem Motto „más integracion“ produziert hatte, ließ sich nun hilflos von einer Kommunikationspanne zur nächsten treiben.

Emotionaler Bericht über rassistische Pöbeleien

Doch wer heutzutage, also Monate später, immer noch der Meinung ist, dass Deutschland möglicherweise viele Sorgen, aber mit Sicherheit kein Rassismus-Problem habe, der wurde am Mittwochabend durch den Deutschland-Fan André Voigt eines besseren belehrt. Der Basketball-Journalist, der mit seiner Familie im Stadion war, hatte am späten Abend ein emotionales Video gepostet, in dem er beschreibt, wie einige Zuschauer hinter ihm die Nationalspieler Leroy Sané und Gündogan bei jeder Ballberührung bepöbelten. „Alles, was sich momentan im Netz abspielt, passierte auf einmal im Block. Man selber wird beschimpft, aber vor allem dieses totale Fallenlassen jeglicher Menschlichkeit“, sagte der Chefredakteur des Basketball-Magazins „Five“ in seinem Facebook-Video, das bis zum Donnerstagmittag mehr als 50.000 Mal angeklickt und mehr als 1000 Mal geteilt wurde. „Bimbo, Neger und noch viel schlimmere Sachen sind plötzlich gefallen.“

Nun kann und soll der DFB selbstverständlich nicht die gesellschaftlichen Probleme Deutschlands im Alleingang lösen. Einen ehrenwerten Versuch unternahm der Verband am Tag nach Voigts Erlebnissen beim Serbien-Spiel aber dennoch. DFB-Mitarbeiter meldeten sich bei dem Journalisten und fragten nach den Sitzplätzen der Pöbel-Zuschauer. Die Polizei und der Ordnungsdienst sei bereits informiert, ließ ein Sprecher ausrichten. Und auch in den Sozialen Netzen machten die Verantwortlichen der Nationalmannschaft Stimmung: „Für Vielfalt - gegen Diskriminierung. Nicht nur heute. Immer!“, twitterte der DFB am Tag des Rassismus.

Ein starkes Zeichen um Gündogan

Dass der Fußball sehr wohl immer noch eine wichtige Rolle bei diesen Themen übernehmen kann, zeigte natürlich auch Gündogans Kurzzeitbeförderung zum Kapitän. Er spiele weiterhin mit Freude für Deutschland, bekräftigte der 28-Jährige, der sich durch die Beschimpfungen der Fan-Chaoten offenbar nicht irritieren lassen wollte. Die Kapitänsbinde habe ihn zusätzlich „motiviert, dann auch die zweite Halbzeit zurückzukommen in dieses Spiel und ein Stück weg mit Leistung voranzugehen“, sagte Gündogan nach seinem 30. Länderspiel.

Es war ein starkes Zeichen, das weder vom DFB geplant noch von VW künstlich in Szene gesetzt wurde. Es war nach Monaten der Diskussionen der Beweis, dass die nun verjüngte Nationalmannschaft noch immer eine Kraft entwickeln kann, wie es in Deutschland kaum ein anderer kann.

Reus ist in der Form seines Lebens

Diese positive Energie will Bundestrainer Löw auf dem Weg von Wolfsburg nach Amsterdam am Sonnabend bestenfalls konservieren. Und man glaubt es kaum: Über Fußball wurde nach der Partie gegen Serbien und vor dem ersten EM-Qualifikationsspiel gegen die Niederlande (So., 20.45 Uhr/RTL) tatsächlich auch noch gesprochen. Da war doch dieser pfeilschnelle Sané, der wahrscheinlich selbst noch im bunten Pelzmantel seinen Gegenspielern davon laufen würde. Und dieser Reus, der mit 29 Jahren plötzlich in der Form seines Lebens ist. Nicht zu vergessen Debütant Lukas Klostermann, den Bundestrainer Löw kurz vor der Wolfsburger Geisterstunde so lobte wie sonst keinen.

Nach Müller, Hummels, Boateng und DFB-Präsident Grindel fragte in diesem Moment übrigens keiner mehr.