Doha. Die Seleção mit Neymar startet am Donnerstag gegen Serbien ins Turnier - für den Superstar womöglich die letzte Chance auf den WM-Titel.

„Mental stark“ oder „Den Moment des Selbstvertrauens nutzen“: So lauten die Botschaften, die im Al-Arabi Sport Club mit großen gelben Buchstaben auf grüne Wände geschrieben sind. Auf der Anlage eines der ältesten Vereine Katars trainiert die brasilianische Nationalmannschaft. La Canarinha wird sie genannt – die Kanarienvogelfarbene, grün und gelb. Sie hat das Talent, um Weltmeister zu werden, so sehen sie es beim Verband, der den Al-Arabi Club ganz nach seinen Vorstellungen herrichten ließ. Nur bei der Mentalität, da will man lieber noch ein bisschen nachhelfen.

Seit 20 Jahren ohne WM-Titel

Seit 20 Jahren war Brasilien nicht mehr Weltmeister, für den Rekord­titelträger ist das eine halbe Ewigkeit. Seit dem ersten von fünf WM-Titeln 1958 waren 24 Jahre die längste Wartezeit. Den unrühmlichen Rekord würde die aktuelle Mannschaft mit einem neuerlichen Scheitern also einstellen. So etwas kann Köpfe und Beine belasten.

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„Wir müssen die einfachen Dinge tun, das ist manchmal am schwersten“, sagt Abwehrroutinier Thiago Silva am Vortag des Auftaktspiels gegen Serbien heute (20 Uhr/ZDF). Der 38-Jährige ist ein Veteran bitterer Niederlagen und emotionaler Exzesse, er war etwa 2014 dabei, als die Spieler bei der Heim-WM bei manchen Spielen schon vor dem Anpfiff vor Ergriffenheit weinten und dann mit 1:7 gegen Deutschland untergingen. „Wir wissen, wie wichtig das erste Spiel ist, um mindestens einen Punkt zu holen und unsere Nerven in den Griff zu bekommen“, sagt er.

Nationaltrainer Tite hat ihn für das Match gegen Serbien gemäß seines Rotations­verfahrens zum Kapitän bestimmt. Unter anderem mit dem Prinzip der kollektiven Verantwortung führte Tite die Nationalelf 2016 aus ihrer Post-Deutschland-Depression.

2018 Aus im Viertelfinale

Während das Land immer mehr in Hysterie abdriftete und Ende 2018 den Rechtspopulisten Jair Bolsonaro zum Präsidenten wählte, schaffte der erfahrene Coach im Fußball eine Oase der Ruhe. Schon 2018 reiste Brasilien wieder als Favorit zur WM, scheiterte in Russland aber überraschend im Viertelfinale an Belgien. Immerhin gelang 2019 vor heimischem Publikum der Gewinn der Südamerikameisterschaft. 2021 erreichte man erneut das Finale, nachdem Corona-Leugner Bolsonaro sein Land als einziges in Südamerika für austragungsfähig erklärt hatte. Doch das Endspiel in Rio ging an Argentinien.

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Brasilien ist derweil hysterisch geblieben. Ende Oktober wurde Bolsonaro knapp abgewählt, doch der Wahlkampf spaltete das Land. Und ausgerechnet Superstar Neymar betrieb massiv Werbung für ihn. Der Star von Paris St.-Germain erklärte sogar, dem Politiker sein erstes WM-Tor widmen zu wollen.

Ob er dieses Versprechen – je nach Standpunkt: diese Drohung – immer noch noch wahrmachen will, war vorab nicht zu erfahren. Lieber als über solch heikle Themen redet man über das Tanzen. „Wir haben ungefähr zehn Jubeltänze für jedes Spiel vorbereitet“, sagte Außenstürmer Raphinha. „Einen für das erste Tor, das zweite, das dritte – bis zum zehnten.“ Tite präzisierte: „Es ist etwas Natürliches, unsere Kultur und Lebensart. Es ist Fröhlichkeit, es ist Freude. Bitte respektiert uns dafür, so wie wir andere Kulturen respektieren.“

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Tite redet gern ein bisschen ganzheitlich, schon immer. „Wir können den Druck zu unserem Vorteil nutzen, weil Träume ein Teil unseres Lebens sind“, sagte er und stellte den Gedanken in einen breiteren Kontext: „Der Fußball kann einen Beitrag für die Erziehung leisten.“

Drei Profis aus der eigenen Liga

Dabei wird auch Tite nicht entgangen sein, dass das Interesse an der Seleção zwar immer noch groß, aber doch rückläufig ist. Das liegt nicht nur an der politischen Vereinnahmung. Vor allem die Armen, die schon bei der Heim-WM kaum vorkamen, können sich mit den Nationalspielern und ihrem Luxusleben in Europa kaum noch identifizieren. Schon deshalb, so heißt es, habe Tite mit Ersatztorwart Weverton von Palmeiras sowie den Flamengo-Profis Everton Riberiro und Pedro auch immerhin drei Profis aus der eigenen Liga berufen.

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Die Säulen der Mannschaft sind natürlich trotzdem andere. Thiago Silva (Chelsea) und Marquinhos (Paris St.-Germain) in der Innenverteidigung, der fünfmalige Champions-League-Sieger mit Real Madrid, Casemiro (inzwischen Manchester United), im defensiven Mittelfeld sowie vor ihm, natürlich, Neymar. Für den 30 Jahre alten Superstar gilt es besonders, „mental stark“ zu sein. 2014 wurde er im Viertelfinale aus dem Turnier getreten, 2018 fiel er mehr mit Frisuren und Schwalben auf als mit seinem Spiel. Für Neymar, in der jüngeren Vergangenheit bisweilen schon etwas fußballmüde, ist es wohl die letzte Chance auf den Titel, ohne den man in Brasilien kaum als ganz Großer gilt.

Wie es heißt, will Tite auf Attacke spielen lassen und vor Neymar drei weitere Angreifer aufbieten. „Jogo bonito“, wie zu den besten Zeiten. Auf dass es viele Tänze geben möge.

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