Braunschweig. Die Europameisterschaft beginnt: Im exklusiven Interview spricht Löws Co-Trainer Marcus Sorg über Müller, Hummels, Lagerkoller und natürlich Löw.

Wenn man im Gespräch mit Marcus Sorg die Augen schließt, während der Bundes-Co-Trainer spricht, könnte man auch dessen Vorgesetzten Joachim Löw erkennen. Sprechen doch beide mit süddeutschem Zungenschlag. Im großen EM-Interview erklärt Sorg die Stärken des DFB-Teams, die Rückholaktionen von Thomas Müller sowie Mats Hummels, und er spricht natürlich über den scheidenden Bundestrainer Löw.

Herr Sorg, was haben Sie am Abend des 11. Juli vor?

Ich hoffe mal, dass das eintrifft, worauf Sie anspielen (schmunzelt). Denn da hätte ich nichts gegen einzuwenden. Im Moment aber geht es für uns erst mal darum, am 15. Juni gut ins Turnier zu starten.

Hat die deutsche Mannschaft die Qualität, das EM-Finale am 11. Juli in London zu erreichen?

Unsere Mannschaft hat sicher eine sehr gute Qualität. Aber ein Turnier gewinnt man nur, wenn sich währenddessen auch ein Spirit in der Mannschaft entwickelt. Es ist schwierig, so etwas vorab zu prognostizieren. Im Turnier ist für uns vieles möglich, aber wir tun gut daran, uns auf jedes einzelne Spiel zu konzentrieren.

Welches ist die hervorstehende Qualität der deutschen Mannschaft?

Wir haben nicht nur eine große individuelle Qualität, sondern durch unsere Charaktere auch ein großes Potenzial als Team. Die Mannschaft ist extrem gewillt, hat das Feuer und die Leidenschaft, sich zu einer Turniermannschaft zu entwickeln. Ich denke, das ist unsere größte Stärke.

Ist das auch der große Unterschied zur enttäuschenden WM 2018?

Damals war die Konstellation eine andere. Wir sind aus einer unglaublichen Erfolgsphase mit dem WM-Titel, Confed-Cup-Sieg und dem EM-Halbfinale gekommen und hatten eine sehr erfahrene Mannschaft, die aber auch über starke Individuen verfügte. Dennoch sind wir in der Vorrunde ausgeschieden. Allerdings wird mir das Abschneiden bei der WM oft zu einseitig und undifferenziert bewertet. Die Ansprüche bei allen Beteiligten sind über Jahre gewachsen, und vielleicht sind wir auch ein bisschen Opfer unseres eigenen Erfolgs geworden. Alle hatten erwartet, dass das einfach so weitergeht. Und das hat nicht geklappt. Italien war 2006 Weltmeister, scheidet 2010 in der Vorrunde aus. Genauso wie Spanien als amtierender Weltmeister in Brasilien. Wir waren gewarnt, und doch haben wir uns 2018 eingereiht. Das tut noch immer weh, das ist noch immer eine riesige Enttäuschung. Es gibt nichts Schwierigeres als den Erfolg zu bestätigen.

Hatte es auch mit öffentlichem Druck zu tun, dass Thomas Müller und Mats Hummels nun wieder in die Nationalmannschaft zurückgekehrt sind?

Nein, das sind Entscheidungen aus Überzeugung. Die öffentliche Meinung ist oft ja ein bisschen schwankend. Nach der WM 2018 hatten alle, wirklich alle einen klaren Umbruch gefordert, und der war ja auch von uns gewollt. Jogi Löw hat den Umbruch zunächst als Prozess vorangetrieben, nicht als harten Schnitt. Zumal er den Spielern, die am Ausscheiden in Russland beteiligt waren, vertraut hat. Denn sie hatten uns über viele Jahre viel Freude und Erfolge bereitet. Bei der Nationalmannschaft geht es immer um Entwicklung. Aber auch die Spiele nach der WM verliefen nicht wie von uns gewünscht. Als wir dann Anfang 2019 entschieden, nun konsequent Räume für nachrückende, junge Spieler schaffen zu wollen, war es für viele auch wieder nicht richtig. Ich war damals in München dabei, als Thomas, Mats und Jerome die Entscheidung mitgeteilt wurde. Das war der schwierigste Moment in meiner ganzen Trainerlaufbahn.

Was war der ausschlaggebende Grund, zumindest Müller und Hummels nun zurückzuholen?

2020 war aufgrund der Corona-Pandemie auch für die deutsche Nationalmannschaft ein sehr schwieriges Jahr. Wir haben fast ein ganzes Jahr gar nicht gespielt oder trainiert. Dann ging es gleich in der Nations League um den Klassenerhalt und anschließend in der WM-Qualifikation weiter. Die Mannschaft hatte gar nicht richtig die Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln. Unser Hauptansinnen war, die Spieler ohne Verletzung durch diese komplizierte Phase zu bringen und gleichzeitig erfolgreich zu sein. Das ist uns größtenteils gelungen, doch am Ende bleibt dann leider das 0:6 gegen Spanien hängen. Aus unserer Sicht haben der Mannschaft ein paar Dinge gefehlt, weswegen wir nun so entschieden haben. Wir wollten neue Impulse und Reize setzen. Auch dies wieder aus voller Überzeugung. Nicht, weil diese Spieler öffentlich gefordert wurden.

Wären die beiden auch dabei, wenn die EM 2020 stattgefunden hätte?

Diese Frage lässt sich nicht beantworten. Aber wir hätten auch vor einem Jahr eine Zäsur gemacht, wenn uns in der Mannschaft etwas für den Erfolg gefehlt hätte.

Welcher deutsche Spieler war für Sie in den vergangenen Monaten die positivste Überraschung?

Ich möchte eigentlich niemanden hervorheben. Aber vielleicht stach Ilkay Gündogan durch seine Entwicklung bei Manchester City und seine Leistungen in der Champions League in dieser Saison doch etwas hervor. Überrascht hat uns dies jedoch nicht, kennen wir doch Ilkays riesiges Potenzial. Auch Robin Gosens war mit seinen Toren als Außenverteidiger bei Atalanta Bergamo sehr prägnant. Antonio Rüdiger hat ebenfalls eine starke Entwicklung hinter sich. Unter Thomas Tuchel hat er sich wieder zu einer unverzichtbaren Größe bei Chelsea entwickelt. Das hat mich sehr gefreut.

Beim VfL Wolfsburg hatte man auf eine Nominierung von Maximilian Arnold gehofft. Woran ist es bei ihm letztlich gescheitert?

Ich kann verstehen, dass Maximilian Arnold enttäuscht ist, und es ist klar, dass sich jeder Spieler Hoffnungen macht, wenn seine Leistungen stimmen. Aber es sind ja noch ein paar andere Spieler nicht dabei, die vergangene Saison international gute Leistungen gebracht haben. Wir hatten schwere Entscheidungen zu treffen, bei denen es darum geht, das bestmögliche Team zu finden. Bei jedem Trainer würde das Aufgebot etwas anders aussehen. Das Gros der Spieler wäre wahrscheinlich dasselbe, aber sechs bis acht Spieler würden schätzungsweise variieren. Wir haben in der Überzeugung die Spieler nominiert, von denen wir glauben, dass sie die beste Mannschaft bilden können. Aber natürlich tut es weh, wenn man Leistungen wie die von Maximilian Arnold nicht belohnen kann. Bei ihm kommt außerdem hinzu, dass wir auf seiner Position im zentralen Mittelfeld extrem stark aufgestellt sind.

Ridle Baku ist trotz konstant starker Saison beim VfL auch nicht dabei, ist er ein Perspektivspieler für die Zeit nach der EM?

Absolut. Ridle hat enormes Entwicklungspotenzial. Er hat es gut gemacht, als er bei uns war. Wir haben ihn ja auf dem Schirm, aktuell bei der U21, mit der er die EM gespielt hat.

Blicken wir mal etwas auf die Stimmung rund um die Nationalmannschaft vor der EM. Wie sehr hat der Machtkampf an der DFB-Spitze die Arbeit des Trainerteams in den vergangenen Monaten erschwert?

Wir arbeiten hier im sportlichen Bereich rund um die Mannschaft sehr autark, aber natürlich ist es nicht gerade schön, wenn der Arbeitgeber keine positive Außendarstellung hat. Wir fokussieren uns auf das, was wir hier beeinflussen können.

Wie bewerten Sie den Anstoß einer Initiative, dass es nun endlich Zeit für eine Frau an der Spitze des DFB ist?

Ich finde, dass die Fähigkeiten und die Eigenschaften entscheidend sein sollten und nicht das Geschlecht oder andere Aspekte. Wenn eine Frau die Qualitäten hat, dieses Amt auszuführen, spricht doch überhaupt nichts dagegen.

Haben Sie Angst, dass sich durch die Streitigkeiten beim DFB noch mehr Menschen von der Nationalmannschaft abwenden werden?

Es liegt nun auch an uns, durch unser Auftreten und unser Spiel wieder für Freude zu sorgen. Das wollen wir.

Wird die diesmal andere Turnierform mit Spielen über den ganzen Kontinent verteilt Auswirkungen haben? Auf die Stimmung der Fans, aber auch innerhalb der Mannschaft?

Der Grundgedanke der Turnierform kommt leider nicht mehr zum Tragen: Europa vereinen, Spiele über Ländergrenzen hinweg, Fußball-Feste feiern, Menschen zusammenbringen. Das bleibt durch Corona leider auf der Strecke. Auf die Stimmung in der Mannschaft wird die Turnierform aber keinen Einfluss haben. Die Spieler sind auf das Sportliche fokussiert. Umso mehr freut uns, dass in München immerhin 14.000 Zuschauer dabei sein können. Das wird wieder ein ganz anderes Stadionerlebnis sein.

Wie groß ist im Trainerteam die Vorfreude?

Wir freuen uns wahnsinnig auf die EM. Auf so ein Turnier arbeitet man als Trainer hin. In den vergangenen drei Jahren haben wir gesehen, dass es schwierig ist, im alltäglichen Rhythmus für Euphorie zu sorgen. Das wird nun wieder anders.

Sind die bitteren Enttäuschungen bei der WM 2018 sowie bei der 0:6-Niederlage gegen Spanien Ende 2020 innerhalb der Mannschaft aufgearbeitet? Können Sie sagen, dass so etwas nie mehr passieren wird?

So etwas kann man nie sagen, Niederlagen, auch schmerzliche, gehören zum Sport immer dazu. Aber diese Themen sind aufgearbeitet, und negative Erfahrungen helfen einem auch immer, besser zu werden.

Kann es eine positive Rolle spielen, dass der Abschied von Joachim Löw nach der EM schon beschlossen ist?

Wir wollen alle sowieso das Maximale herausholen, aber in der besonderen Konstellation wünschen alle in der Mannschaft Jogi Löw einen krönenden Abschluss. Das kann uns helfen, über die 100 Prozent an Leidenschaft und Willen herauszuholen.

Wer sind für Sie die Favoriten bei der EM?

In erster Linie die großen Nationen, die mit ihren Mannschaften auch schon länger zusammenspielen: die Franzosen, Spanien, Italien, Belgien oder die Engländer, die mit ihrer jungen Mannschaft auch schon ein gutes Turnier gespielt haben. Aber der Favoritenkreis ist breitgefächert und gerade bei einer EM hat es in der Vergangenheit ja schon die eine oder andere Überraschung gegeben.

Hat Deutschland die schwerste Vorrundengruppe erwischt?

Mit dem amtierenden Welt- sowie dem Europameister hat man schon eine extrem schwere Aufgabe. Aber wir müssen diese Herausforderungen annehmen, und wir gehen mit Selbstvertrauen in das Turnier, in das wir gut starten wollen.

Worauf liegt der Fokus der deutschen Mannschaft im taktischen Bereich?

Wir müssen unseren Fokus auch wieder auf unsere defensive Stabilität legen. Wir haben zuletzt zu leicht Gegentore kassiert. Doch wir müssen auch Waffen für die Offensive und im Umschaltspiel entwickeln. Aber wenn wir uns gerade unseren ersten Gegner Frankreich anschauen, haben die im Angriff unglaublich viel Geschwindigkeit und Qualität im Umschaltspiel. Darauf müssen wir uns einstellen und unnötige Ballverluste vermeiden. Wir wollen unsere Spielkultur beibehalten, das zeichnet uns aus, und wir haben auch die Spieler für einen attraktiven Offensiv-Fußball. Aber wir müssen auch ein Verantwortungsbewusstsein für das Verteidigen entwickeln mit dem unbedingten Willen, das Gegentor zu verhindern.

Wie wichtig kann es bei dieser EM sein, einen erfahrenen Bundestrainer wie Joachim Löw an der Seitenlinie zu haben?

Das ist das Wichtigste. Die letzten Titel bei den Turnieren haben immer Trainer gewonnen, die schon lange auf dieser Position gearbeitet haben. Unser größtes Faustpfand ist die Erfahrung unseres Trainers. Joachim Löw, er ist in allen Situationen ruhig und fokussiert. Das strahlt auf die Spieler ab. Wir tun gut daran, diesem Trainer zu vertrauen. Wenn man sich die Ära unter Jogi Löw anschaut und sieht, was wir erreicht haben, bin ich mir sicher, dass uns andere Nationen um Joachim Löw beneiden.

Wie erleben Sie Joachim Löw, nachdem er seinen Abschied bekanntgegeben hat? Wirkt er befreiter, spürt man noch mehr Feuer?

Der Bundestrainer hatte immer Feuer, und er hat es auch jetzt. Der brennt für die Spiele gegen Frankreich, Portugal, Ungarn – und das gesamte Turnier. Natürlich ist das letzte Turnier für ihn noch einmal eine besondere Herausforderung, und wir als Team geben für ihn noch einmal alles. Er ist die stärkste Persönlichkeit, die ich kenne. Er musste in den vergangenen Jahren so viel Kritik aushalten, hat aber weiterhin nach seiner innersten Überzeugung gehandelt und nicht danach, wie es am besten in der Öffentlichkeit ankommt.

Wie würden Sie Ihre persönliche Beziehung beschreiben, hat sich zwischen ihnen eine Art Freundschaft entwickelt?

Natürlich hat sich in den vergangenen Jahren eine enge Beziehung entwickelt, geprägt von großem gegenseitigen Respekt. Wir hatten immer ein sehr gutes Vertrauensverhältnis, gerade in schwierigen Zeiten. Ich sehe meine Aufgabe darin, den Trainer bestmöglich in seinem Entscheidungsprozess zu unterstützen. Ich sage meine Meinung, aber am Ende muss er der Überzeugung sein, dass er das Richtige tut. Ich bin jetzt fünf Jahre an seiner Seite, und es geht ihm immer nur darum, was das Beste für die Mannschaft ist. Dafür hat er meine größte Anerkennung.

Bleiben Sie auch nach der EM beim DFB oder können Sie sich auch noch mal eine Karriere als Vereinstrainer vorstellen?

Ich habe einen Vertrag beim DFB über die Euro hinaus und bin bestrebt, diesen – wie in der Vergangenheit immer – auch zu erfüllen. Ein anderer Impuls ist aber hin und wieder auch nicht schlecht. Ich kann mir schon vorstellen, noch einmal eine Aufgabe als Hauptverantwortlicher zu übernehmen.

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