Berlin. Die Länder schießen massiv gegen das neue Infektionsschutzgesetz und die bundeseinheitliche Notbremse. Trotzdem halten sie es im Bundesrat nicht auf. Die erste Beschwerde liegt allerdings schon beim Verfassungsgericht.

Das umstrittene neue Infektionsschutzgesetz mit der Bundes-Notbremse hat die letzten Hürden genommen und tritt an diesem Freitag in Kraft.

Zunächst passierte es am Donnerstag trotz massiver Kritik der Länder den Bundesrat, dann wurde es von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier unterzeichnet und später im Bundesgesetzblatt veröffentlicht. In Kreisen und Städten mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von über 100 in den vergangenen drei Tagen wird die Notbremse ab Samstag automatisch greifen, wie das Bundesinnenministerium in Berlin erläuterte.

Allerdings liegt bereits der erste Eilantrag dagegen im Postfach des Bundesverfassungsgerichts. Weitere Beschwerden in Karlsruhe dürften folgen.

Der Bundesrat ließ die Gesetzesänderung in einer Sondersitzung passieren, obwohl die Ministerpräsidenten sichtlich empört waren. Sie verzichteten gleichwohl darauf, den Vermittlungsausschuss anzurufen. Alle sechs Länderchefs, die sich in der gut zweistündigen Aussprache zu Wort meldeten, zerpflückten die Regelungen aber.

Kanzlerin Angela Merkel verteidigte sie hingegen als unverzichtbar im Kampf gegen die Pandemie. "Mir ist bewusst, dass sich die Beliebtheit der Notbremse in Grenzen hält", sagte die CDU-Politikerin in einer aufgezeichneten Rede bei den digitalen Familienunternehmer-Tagen. "Aber wir brauchen sie als Wellenbrecher für die dritte Welle."

Die Länderchefs hatten durch die Bank verfassungsrechtliche Bedenken - vor allem wegen der starren Notbremse - und sahen immense Probleme bei der kurzfristigen praktischen Umsetzung. Der vielfach kritisierte "Flickenteppich" an Pandemieregeln werde nun noch größer, hieß es. Die Ministerpräsidenten monierten auch, dass der Bund die Erfahrungen der Länder in der Pandemiebekämpfung nicht berücksichtigt habe.

Die Länder wollten aber offenkundig nicht als Bremser in der Pandemiebekämpfung dastehen, zumal sie wegen der Infektionslage selbst Handlungsbedarf sahen. "Ja, es ist richtig, dass schnell gehandelt wird. Die spannende Frage ist natürlich: wie, in welcher Form und mit welchem Inhalt?", sagte Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU).

Die Zustimmung erfolgte in minimalster Form: Es gab keine förmliche Abstimmung. Eine Zustimmung der Länderkammer war allerdings ohnehin nicht erforderlich. Bundesratspräsident Reiner Haseloff (CDU) stellte nur fest, dass der Vermittlungsausschuss nicht angerufen werde, weil hierfür keine Anträge vorlägen. "Dieses Gesetz kann daher in Kraft treten, wenn der Bundespräsident es ausgefertigt hat und es verkündet wurde."

Gezogen werden soll die Notbremse, wenn in einem Landkreis oder einer Stadt die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen an drei Tagen hintereinander über 100 liegt. Dann dürfen Menschen ab 22.00 Uhr die eigene Wohnung in der Regel nicht mehr verlassen. Alleine spazierengehen und joggen ist bis Mitternacht erlaubt. Es darf sich höchstens noch ein Haushalt mit einer weiteren Person treffen, wobei Kinder bis 14 Jahre ausgenommen sind. Läden dürfen nur noch für Kunden öffnen, die einen negativen Corona-Test vorlegen und einen Termin gebucht haben. Präsenzunterricht an Schulen soll ab einer Inzidenz von 165 meist gestoppt werden.

Im Bundesrat wurde ein tiefes Zerwürfnis zwischen Bund und Ländern spürbar. Haseloff kritisierte scharf die Kompetenzverlagerung auf den Bund. "Der heutige Tag ist für mich ein Tiefpunkt in der föderalen Kultur der Bundesrepublik Deutschland", sagte der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt. Die Länderkammer berate über ein Gesetz, "dessen Entstehung, Ausgestaltung und Ergebnis unbefriedigend sind". Der saarländische Regierungschef Tobias Hans (CDU) betonte: "Ob diese Kompetenzverlagerung auf die Bundesebene eine wirkungsvollere Art der Pandemiebekämpfung darstellt, dieser Beweis, der ist noch nicht erbracht. Und der muss erbracht werden."

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sagte den Ländern in der Sitzung unverblümt, dass sie sich dieses Gesetz selbst zuzuschreiben hätten. "Seit Anfang März sind die Instrumente ja alle benannt, aufgeschrieben, eigentlich vereinbart und geeint, inklusive der Ausgangsbeschränkungen", sagte er mit Blick auf die Bund-Länder-Runde vom 3. März. "Und da müssen wir uns ehrlich machen: Obwohl Bund und Länder dasselbe wollen, ist bei vielen der Eindruck entstanden, wir würden nicht am selben Strang ziehen in den letzten Wochen." Das einheitliche Handeln, so der Eindruck, sei verloren gegangen. Das Gesetz sei "das Ergebnis all dieser Entwicklungen".

Bouffier bezeichnete die starren Ausgangsbeschränkungen als "verfassungsrechtlich problematisch". Es stelle sich auch die Frage, wie zum Beispiel die vorgesehenen Schulschließungen kurzfristig umgesetzt werden sollten. Der Hesse bedauerte es, "dass der Bundestag die Chance hat verstreichen lassen, viele Erfahrungen der Länder, die wir aus einem Jahr praktischem Krisenmanagement gesammelt haben, mehr und intensiver aufzunehmen". Das hätte die Akzeptanz in der Bevölkerung deutlich erhöhen können.

Stephan Weil aus Niedersachsen sagte, die Neuregelungen seien für den Infektionsschutz "kein großer Wurf". Bei den Ausgangsbeschränkungen sei er "sehr gespannt" auf die Rechtsprechung. Seinem Land gebe das Gesetz sogar erhebliche Lockerungsmöglichkeiten. Der SPD-Politiker fasste seine Bewertung so zusammen: "Für mein Land unnötig, aber ich füge hinzu: auch unschädlich." Berlins Regierungschef Michael Müller (SPD) bezeichnete das Gesetz als "eine Ergänzung - vielleicht eine wichtige Ergänzung unseres eigenen Handelns, ein Baustein mehr, nicht mehr und nicht weniger als ein Baustein".

Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) sah allerdings auch Versäumnisse bei den Ländern. Man könne jetzt nicht nur mit dem Finger auf die Bundesregierung zeigen. "Sondern ich zeige auch den Finger auf uns zurück und sage: Nur gemeinsam schaffen wir es, weiterhin der Pandemie die Stirn zu bieten."

Der Sprecher des Bundesinnenministeriums, Steve Alter, wies darauf hin, dass in Landkreisen und Städten mit einer Sieben-Tage-Inzidenz über 100 die nach Landesrecht zuständigen Behörden das Wirken der Notbremse ab Samstag noch am Freitag bekannt machen müssten.

Schon vor der Bundesratsentscheidung ging beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe der erste Eilantrag gegen das Gesetz ein. Rechtsanwalt Claus Pinkerneil mit Kanzleien in Berlin und München teilte mit, Verfassungsbeschwerde eingelegt zu haben. Auch die Freien Wähler kündigten Verfassungsbeschwerde an. Die FDP hat ebenfalls einen solchen Schritt angekündigt, genauso wie der SPD-Bundestagsabgeordnete Florian Post.

Ihm gehe es vor allem darum, dass das Gesetz die Maßnahmen weitestgehend (verwaltungs)gerichtlicher Kontrolle entziehe, dass der Inzidenzwert als alleiniger Maßstab ungeeignet sei und dass insbesondere Ausgangsbeschränkungen unverhältnismäßig seien, sagte Pinkerneil der Deutschen Presse-Agentur. Pinkerneil sagte, er bereite weitere Verfassungsbeschwerden unter anderem für Gastronomen vor.

Die Freien Wähler wollen gleich mit einer doppelten Verfassungsbeschwerde gegen die Bundes-Notbremse vorgehen - zunächst gegen die bundeseinheitliche nächtliche Ausgangssperre, dann gegen die geplante Notbremsen-Regel für den Handel. Man wolle damit die "Freiheitsrechte" der Bürger verteidigen, sagte der Bundesvorsitzende Hubert Aiwanger.

Der Bundestagsabgeordnete Post hat ebenfalls angekündigt vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen. Er habe gegen das Infektionsschutzgesetz gestimmt, twitterte er bereits am Mittwoch nach dem Bundestagsbeschluss. "Zudem werde ich am Freitag BVerfG-Klage einreichen. Es gibt Möglichkeiten, jenseits von Ausgangssperren", schrieb er weiter.

FDP-Chef Christian Lindner hatte schon in der vergangenen Woche mit einer Klage gedroht. Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion im Bundestag, Marco Buschmann, schrieb am Donnerstag bei Twitter: "Ausgangssperren sind unverhältnismäßig und ihre Wirksamkeit halten wir für fragwürdig." Mit anderen Abgeordneten der FDP-Fraktion werde er beim Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde einreichen.

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