Straßburg. Brüssel ist für viele weit weg und die Europäische Union ein undurchsichtiger Apparat. Jetzt sollen die Bürger bei Reformvorschlägen mitreden. Aber haben sie wirklich was zu sagen?

Die Europäische Union startet einen neuen Anlauf, bürgernäher, demokratischer und schneller zu werden. Politiker und Bürger begannen am Samstag mit einer Plenarsitzung in Straßburg die Arbeit der Konferenz zur Zukunft Europas und beschworen den Willen zu Reformen.

Bis zum Frühjahr 2022 sollen konkrete Vorschläge erarbeitet werden. Ob und wie sie umgesetzt werden, entscheiden dann die EU-Staaten und das Europaparlament.

"Was funktioniert, was muss sich ändern? Wie können wir eine Union schaffen, die fit für die nächsten Jahrzehnte ist?", fragte einer der Vorsitzenden der Konferenz, der belgische Europaabgeordnete Guy Verhofstadt. Es gehe darum, wie die europäischen Werte gewahrt, wie demokratische Entscheidungen beschleunigt und Vetos in der EU überwunden werden könnten, sagte der Liberale.

Gemeint ist die Tatsache, dass vor allem Entscheidungen in der Außen- und Steuerpolitik von den 27 EU-Staaten einstimmig getroffen werden. Jede Regierung hat also ein Vetorecht. Viele EU-Parlamentarier wollen dieses Prinzip überwinden. Insgesamt wollen sie mehr Einfluss des Parlaments als demokratisch gewählter Institution, auch bei der Besetzung der EU-Spitzenämter.

Bei der Auswahl von EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen war das Parlament 2019 ausgebremst worden. Von der Leyen versprach deshalb die Reformdebatte. Daraufhin wurde die Zukunftskonferenz vorbereitet.

Viele der mehr als 150 Redner beteuerten am Samstag, wie wichtig die Beteiligung der Bürger an der Zukunftskonferenz sei. Dutzende Bürger kamen teils im Saal des Europaparlaments, teils online zugeschaltet zu Wort und nannten die für sie wichtigen Themen, darunter Klimaschutz, Migration, Arbeitsplätze, Wohlstand, freies Reisen oder Studienaustausch.

Menschen in Europa können sich über eine Internetplattform in die Konferenz einbringen und zum Beispiel selbst Diskussionen veranstalten. Zudem soll es Bürgerforen geben, die wiederum Vertreter ins Plenum mit Vertretern aus den EU-Institutionen und den nationalen Parlamenten entsenden. Die nächste Plenarversammlung ist für den 22. und 23. Oktober vorgesehen.

Wie grundsätzlich die Erneuerung ausfällt, ist offen. Werden Grundprinzipien wie die Machtverteilung zwischen den EU-Institutionen angetastet, müssten möglicherweise die EU-Verträge geändert werden. Das scheuen einige EU-Staaten, weil die Ratifizierung teils Referenden nötig macht und der Ausgang unberechenbar wäre.

Etwaige Reformen könnten wahrscheinlich im jetzigen rechtlichen Gefüge gemacht werden, sagte die portugiesische Europaministerin Ana Paula Zacarias bei der Auftaktveranstaltung. "Wir können das jetzige System nutzen." Portugal hat derzeit den EU-Ratsvorsitz.

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban geht der Einfluss des Europaparlaments schon heute zu weit. Der rechtsnationale Regierungschef forderte am Samstag in Budapest, die nationalen Parlamente der EU-Staaten sollten das Recht bekommen, gesetzgeberische Prozesse im EU-Parlament zu stoppen, wenn nationale Kompetenzen verletzt sein könnten. "Das EU-Parlament hat sich in Bezug auf Kriterien der europäischen Demokratie als Sackgasse erwiesen", sagte Orban.

Die Abgeordneten haben Orban erzürnt, weil sie 2018 für ein Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge gegen Ungarn stimmten. Dieses wird eingeleitet, wenn ein Land EU-Grundwerte gefährdet.

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