Kiew/Moskau/Brüssel. Die US-Streitkräfte in Europa stufen den Krisenstatus für die Ostukraine hoch. Die Spannungen zwischen Moskau und Kiew nehmen zu. Die Augen richten sich nun auf die nächsten Schritte von Kremlchef Putin.

Die neuen Spannungen um das Konfliktgebiet Donbass im Osten der Ukraine lassen Russlands Patrioten frohlocken.

Sie hoffe, dass die US-Medien mit ihren Behauptungen Recht hätten, dass 4000 russische Soldaten an der Grenze der Ukraine aufgezogen seien, meinte die Chefredakteurin des Kreml-Fernsehsenders RT, Margarita Simonjan, dieser Tage. Zwar bestätigt Russland die Truppenstärke nicht. Aber immerhin sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow, dass Russland seine Militärpräsenz dort solange halte, wie es der Generalstab und der Oberkommandierende, also Präsident Wladimir Putin, für nötig hielten.

Putins wichtige Propagandistin Simonjan wiederholte auch nach einem Besuch im Donbass, dass es Zeit sei, die Regionen Luhansk und Donezk heim ins Reich von "Mütterchen" Russland zu holen. Zwar wies Putins Sprecher Peskow das prompt zurück. Es gebe keine Pläne, die selbsternannten Volksrepubliken in das russische Staatsgebiet aufzunehmen. Klar ist aber auch, dass Moskau die von der Ukraine abtrünnigen Regionen nicht ihrem Schicksal überlässt.

Seit vor sieben Jahren dort am 14. April mit dem Beginn einer ukrainischen Anti-Terror-Operation der Krieg ausbrach, läuft in den von Separatisten kontrollierten Regionen vieles wie in Russland. Der Rubel ist offizielles Zahlungsmittel, nur Russisch ist noch Amtssprache. Zwar besitzen die meisten Bewohner noch den ukrainischen Pass. Doch haben sich inzwischen Hunderttausende einen Ausweis einer der beiden "Volksrepubliken" ausstellen lassen. Mehr als 400 000 Menschen haben nach Putins Angebot nun einen russischen Pass.

"Ich möchte betonen, dass der Donbass keinen Krieg will. Und der Donbass wird auch keinen Krieg beginnen", sagt der Anführer der "Volksrepublik" Donezk, Denis Puschilin. Er beschreibt die Lage an der Front als "ziemlich unruhig". Und er beklagt, dass die Ukraine ihre Truppen für neue Kämpfe aufstelle.

Tatsächlich wiesen zuletzt auch die Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in der Region auf wachsende Aktivitäten beider Konfliktseiten hin. Im Februar und März kursierten in den sozialen Netzwerken Videos von ukrainischen Zügen, die mit Panzern und anderen Militärfahrzeugen beladen nach Osten fuhren. Am Sonntag präsentierte das ukrainische Militär zudem selbst ein Video von Übungen der Panzerreserve im Luhansker Gebiet - nicht weit von der Front entfernt.

Vor allem aber die jüngsten Meldungen über getötete ukrainische Soldaten lenken die westliche Aufmerksamkeit auf den Konflikt mitten in Europa. Mehr als 13 000 Menschen kamen dort bisher nach Angaben der Vereinten Nationen ums Leben. Das Kommando der US-Streitkräfte in Europa (EUCOM) beobachtet die Lage seit kurzem nicht mehr nur als "mögliche Krise", sondern als "potienziell unmittelbar bevorstehende Krise".

Nach Meinung vieler Beobachter in der Ukraine ist das auch im Sinn des ukrainischen Präsidenten Wolodomyr Selenskyj. Bei seiner Wahl vor zwei Jahren versprach er, den Konflikt friedlich zu lösen. Erfolge kann der frühere Schauspieler aber bisher nicht vorweisen.

Mehr als 40 Prozent der Ukrainer bekannten sich in einer Umfrage zur Umsetzung des 2015 unter Vermittlung der Bundeskanzlerin Angela Merkel erreichten Minsker Friedensplans. Der Plan sieht neben der Waffenruhe eine Entmilitarisierung der Front, eine Amnestie für die Separatisten, Wahlen in den abtrünnigen Gebieten und die Gewährung einer Autonomie vor. Für eine militärische Rückeroberung der Region ist nur knapp ein Fünftel der Bevölkerung.

Der ukrainische Armeechef Ruslan Chomtschak ist überzeugt, dass Selenskyj kein Problem damit habe, eine neue Offensive im Donbass zu befehlen. Gegen die derzeitigen Kräfte der moskautreuen Separatisten rechnete er sich Siegchancen aus, wie er sagte. Allerdings weiß auch Chomtschak, dass Russland einer militärischen Lösung nicht zusieht.

Wenn die Separatistenführungen in den Großstädten Luhansk und Donezk zum Schutz ihrer neuen russischen Staatsbürger im Donbass Moskau offiziell um Hilfe anriefen, wäre Putin im Zugzwang. Der 68-Jährige ist nach mehr als 20 Jahren an der Macht bekannt dafür, dass er keinen Konflikt scheut. Russland sieht sich unter Putin längst wieder als selbstbewusste und mit modernsten Atomwaffen hochgerüstete militärische Großmacht - auch wenn der frühere US-Präsident Barack Obama das Land einmal als regionalen Player abtat.

Ungeachtet hoher Kosten entriss Russland 2014 der Ukraine die Schwarzmeer-Halbinsel Krim, führt bis heute Krieg in Syrien und weitete auch seine Präsenz etwa in der Arktis aus, wo es Anspruch auf Bodenschätze erhebt. 2008 wies Russland den Nachbarn Georgien in die Schranken, als sich die Südkaukasusrepublik mit Gewalt ihre abtrünnige Region Südossetien zurückholen wollte. Russland stationierte dort und in Abchasien nicht nur Tausende Soldaten. Es erkannte beide Regionen auch als unabhängige Staaten an.

Russische Kommentatoren betonten seit langem, dass solch ein Szenario wie in Georgien oder auf der Krim auch im Donbass möglich wäre. Schon jetzt gilt als gesichert, dass aus Russland nicht nur Waffen und Munition in die Region gelangen, sondern auch Söldner. Der Donbass sei für Russland vor allem als Druckmittel für die ukrainische Führung nützlich, aber auch zur Lösung demografischer Probleme, wie die Denkfabrik Moskauer Carnegie Center schreibt. Russland erhalte aus der Ukraine weiter eine große Anzahl Migranten.

Für die EU und die USA wird der Konflikt zwischen Moskau und Kiew so oder so wieder zum Testfall für die Beziehungen zu Russland. Präsident Selenskyj musste zuletzt lange auf ein Telefonat mit dem neuen US-Präsidenten Joe Biden warten, der als Freund der Ukraine gilt - er sicherte der Ex-Sowjetrepublik wie die Nato Solidarität zu. Außerdem liefern die USA Waffen in das Land.

Doch auf einen offenen Konflikt mit der Atommacht Russland dürfte sich weder in Washington noch im Nato-Hauptquartier in Brüssel jemand einlassen. Ein Grund ist, dass die Ukraine bis heute nur Partnerland und kein Mitglied im Verteidigungsbündnis ist. Niemand könne ein Interesse daran haben, wegen eines Regionalkonflikts einen Dritten Weltkrieg zu riskieren, heißt es in Diplomatenkreisen.

Die Nato reagiert deshalb zunächst zunehmend beunruhigt und beobachtet die russischen Truppenbewegungen genau. Dabei gilt aktuell als ein Horrorszenario, dass Russland mit den Aufständischen in der Ostukraine eine Großoffensive planen könnte, um sich den Zugriff auf den Nord-Krim-Wasserkanal bis zum Fluss Dnipro zu sichern. Moskau könnte damit den chronischen Wassermangel auf der Krim beenden. Die ukrainische Regierung hatte die Wasserversorgung der Krim nach der russischen Annexion der Halbinsel gestoppt.

Vor allem aber macht die ukrainische Führung seit langem keinen Hehl daraus, dass sie den Westen dafür braucht, um Russland unter Druck zu setzen - nicht nur mit Sanktionen. In Kiew gilt es als möglich, dass Selenskyj eine Eskalation des Konflikts mit Moskau riskiert, um bei einer russischen Annexion des Donbass noch mehr Druckmittel zu haben. Die Ukraine will die EU schon lange dazu bringen, die russische Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2 zu stoppen. Sie fürchtet um ihre bisherigen Milliardeneinnahmen aus dem Transit von russischem Gas nach Europa. Beim Aufflammen des Konflikts in der Ostukraine, so das Kalkül in Kiew, könnte Nord Stream 2 doch noch scheitern.

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