London. London will sich in Zukunft stärker nach Asien und dem Pazifikraum ausrichten. Die größte Gefahr für die Sicherheit ihres Landes gehe aber von Russland aus, glaubt die britische Regierung.

Erstmals seit Jahrzehnten der Abrüstung will die britische Regierung wieder einen Ausbau ihres Atomwaffenarsenals ermöglichen. Das geht aus einem Dokument zur strategischen Neuausrichtung des Landes nach dem Brexit hervor, das Premierminister Boris Johnson im Parlament vorgestellt hat.

Demnach soll die bislang bis Mitte des Jahrzehnts vorgesehene Begrenzung der Anzahl von Atomsprengköpfen von 180 auf bis zu 260 erhöht werden. Das sei notwendig, um angesichts des "sich verändernden Sicherheitsumfelds einschließlich einer Reihe von technologischen und ideologischen Bedrohungen" ein Minimum an Abschreckung aufrechtzuerhalten, hieß es.

Wie viele Sprengköpfe Großbritannien derzeit besitzt, ist offiziell nicht bekannt. Daher ist nicht klar, ob Großbritannien sein Arsenal tatsächlich vergrößern oder nur weniger reduzieren will als bislang geplant. Die Vereinigung Amerikanischer Wissenschaftler FAS beziffert das britische Arsenal (Stand 2020) auf 195, von denen 120 einsatzfähig stationiert sind. Ein Regierungssprecher betonte, die Verpflichtungen Großbritanniens aus dem Atomwaffensperrvertrag würden von der Anpassung nicht berührt. Die Erneuerung der Kapazitäten zur nuklearen Abschreckung seien Teil einer 24 Milliarden Pfund (27,9 Milliarden Euro) schweren Investition in die Streitkräfte, sagte Johnson.

Die Regierung bezeichnete die sogenannte "Integrated Review" als radikalste Neubewertung des britischen Platzes in der Welt seit dem Ende des Kalten Krieges. Ziel des Projekts sei es, "das Vereinigte Königreich stärker, sicherer und wohlhabender" zu machen, sagte der britische Regierungschef.

London will sich zudem geopolitisch stärker nach Asien und zum Pazifikraum ausrichten. Bis 2030 rechnet die britische Regierung demnach mit einer weiteren Entwicklung zu einer multipolaren Welt und einer Verlagerung des Schwerpunkts in den indopazifischen Raum. Dem solle mit der Entsendung des Flugzeugträgers "HMS Queen Elizabeth" in den Pazifik und einer Reise Johnsons nach Indien später in diesem Jahr Rechnung getragen werden. Teil dieser Strategie sei auch die Einladung Südkoreas, Australiens und Indiens zum G7-Gipfel, der im Juni im englischen Cornwall stattfinden soll, und der Beginn von Beitrittsgesprächen zum transpazifischen Handelsabkommen TPP.

China stelle durch sein politisches System eine Herausforderung für die Sicherheit, den Wohlstand und die Werte Großbritanniens und seiner Partner dar, der man künftig besser begegnen wolle, hieß es weiter. Gleichzeitig wolle man mit dem Land eine "positive Handels- und Investitionspartnerschaft führen und gemeinsam an transnationalen Herausforderungen wie dem Klimawandel arbeiten.

Großbritannien bleibe der Nato und der als "Five Eyes" bezeichneten Geheimdienstkooperation mit den englischsprachigen Ländern USA, Australien, Kanada und Neuseeland verbunden, betonte Johnson. Im europäisch-atlantischen Raum sei Russland derzeit die "akuteste Bedrohung", hieß es in dem Dokument.

Russland reagierte prompt: Solche Ankündigungen bestätigten nur die russische Befürchtung eines erhöhten Atommacht-Potenzials der NATO, sagte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses der Staatsduma, Leonid Sluzki, der Agentur Interfax zufolge.

Ebenfalls weiterhin als große Bedrohung betrachtet London die Gefahr durch Terroristen. Die britische Regierung schätzt dem Dokument zufolge einen erfolgreichen terroristischen Angriff mit chemischen, biologischen, radiologischen oder nuklearen Waffen bis zum Jahr 2030 als "realistische Möglichkeit" ein.

Um dem zu begegnen, solle ein Anti-Terror-Zentrum eingerichtet werden, kündigte Johnson an. Eine nationale Cyber-Einheit, die offensive Operationen gegen Terroristen, Staaten und kriminelle Banden ausführe, solle im Nordwesten Englands angesiedelt werden. Als Lehre aus der Pandemie will London zudem ein regierungsübergreifendes Lagezentrum schaffen.

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