Minsk/Genf. International gibt es weiter viel Anerkennung für die Demokratiebewegung von Belarus. Sogar eine wichtige Auszeichnung könnte kommen. Aber im UN-Menschenrechtsrat herrscht Streit. Und der umstrittene Staatschef Lukaschenko zieht Spott auf sich.

Gegen den massiven Widerstand Russlands und anderer Länder hat die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja auf internationaler Bühne die Gewalt in ihrer Heimat angeprangert.

Das Ausmaß der Brutalität, die das "Regime" in Belarus (Weißrussland) unter Staatschef Alexander Lukaschenko anwende, sei beispiellos und ein Verstoß gegen internationales Recht. Das sagte die 38-Jährige am Freitag in einem Video bei einer Dringlichkeitsdebatte des UN-Menschenrechtsrats.

Diplomaten aus Russland, Belarus, Venezuela und China versuchten in der Sitzung zur Lage der Ex-Sowjetrepublik, die Vorführung des Videos zu verhindern. Tichanowskajas Botschaft wurde trotzdem gezeigt.

UN-Experten erklärten, Tausende Demonstranten seien festgenommen worden, und es gebe Hunderte Berichte über Folter. Es sei entscheidend für die Zukunft des Landes, diese Spirale wachsender Unterdrückung und Gewalt zu beenden, sagte die stellvertretende UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Nada Al-Nashif, in Genf. "Die Zivilgesellschaft ist ein wertvoller Partner und keine Bedrohung." Der Botschafter von Belarus wies die Vorwürfe zurück.

Das Gremium beschloss auf Initiative europäischer Staaten eine Resolution, in der Minsk aufgefordert wird, einer UN-Kommission freien Zugang unter anderem zu Gefängnissen zu gewähren. 23 Staaten stimmten dafür, Eritrea und Venezuela dagegen, 22 Länder enthielten sich. In der Resolution wird die Regierung in Minsk außerdem aufgefordert, einen Dialog mit der Opposition und der Zivilgesellschaft zu beginnen.

Der belarussische Außenminister Wladimir Makej kritisierte die Resolution als Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes. Der Chefdiplomat kündigte Gegenmaßnahmen an, sollten die EU-Außenminister am Montag Sanktionen beschließen. Mögliche Reaktionen seien eine Sanktionsliste gegen europäische Amtsträger sowie der Entzug der Akkreditierung für ausländische Korrespondenten.

Der 66-jährige Lukaschenko strebt nach der umstrittenen Präsidentenwahl vom 9. August nach 26 Jahren an der Macht seine sechste Amtszeit an. Er wies in Minsk bei einem Auftritt am Donnerstagabend vor einem Frauenforum erneut zurück, dass das Wahlergebnis von 80,1 Prozent der Stimmen gefälscht sei. Lukaschenko sieht sich als Opfer einer internationalen Kampagne. Er verkündete deshalb bei der Veranstaltung, dass Belarus die Grenzen zu den EU-Nachbarn Polen und Litauen schließe.

Litauen äußerte sich irritiert ob der erklärten Grenzschließung und wies darauf hin, dass der Verkehr weiter laufe. "Ich denke, es ist eine Provokation ohne besonderen Grund", sagte Präsident Gitanas Nauseda. "Die Behörden in einigen Ländern vergessen einfach, dass es ein Prinzip der Gegenseitigkeit in den internationalen Beziehungen gibt und Grenzen auf beiden Seiten geschlossen werden können." Auch der belarussische Grenzschutz sprach nur von einer verschärften Kontrolle an den Übergängen.

Tichanowskaja warf Lukaschenko mit Blick auf die Erklärung zur Grenzschließung "Realitätsverlust" vor. Sie forderte ihre Landsleute auf, ihm kein Wort mehr zu glauben. Im Nachbarland Ukraine meinte Innenminister Arsen Awakow: "Lukaschenko dreht offenbar total durch." Er rede "Unsinn" und leide unter "Verfolgungswahn". "Seine Texte bekommt er wahrscheinlich von Putin", schrieb Awakow bei Facebook mit Blick auf die Unterstützung durch Kremlchef Wladimir Putin für Lukaschenko. Der Machthaber solle Wodka trinken und sich beruhigen.

Die Demokratiebewegung in Minsk wurde am Freitag für den renommierten Sacharow-Preis des Europaparlaments nominiert. Neben anderen Kandidaten findet sie sich gleich zweimal auf der Vorschlagsliste - einmal auf Antrag der großen Fraktionen Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberale und einmal, mit etwas anderer Begründung, nominiert von der EU-kritischen EKR-Fraktion.

Der Sacharow-Preis wird seit 1988 vom Europäischen Parlament an Persönlichkeiten oder Organisationen verliehen, die sich für die Verteidigung der Menschenrechte und der Meinungsfreiheit einsetzen. Am 22. Oktober soll bekannt gegeben werden, wer die diesjährige Auszeichnung erhält. Die Preisverleihung ist im Dezember.

Bereits in der Plenardebatte am Dienstag zur Lage in Belarus hatten mehrere Abgeordnete die Nominierung der belarussischen Opposition ins Spiel gebracht. Neben Tichanowskaja, die sich als Siegerin der Präsidentenwahl sieht, nannten sie dabei die Aktivistinnen Maria Kolesnikowa und Veronika Zepkalo. Die drei Frauen hatten sich im Wahlkampf zusammengeschlossen, nachdem Lukaschenko zwei Bewerber um das Präsidentenamt hatte einsperren lassen. Tichanowskaja war als Vertreterin der Opposition zur Wahl angetreten. Sie verließ nach der Abstimmung ihre Heimat auf Druck der Behörden und lebt Litauen.

In ihrem Video bei der UN-Menschenrechtsdebatte forderte Tichanowskaja mit Nachdruck die Freilassung aller politischen Gefangenen sowie Neuwahlen. Aus Protest gegen Behördenwillkür trat der inhaftierte Oppositionsanwalt Maxim Snak am Freitag in den Hungerstreik. Der 39-jährige Jurist erhielt seine Anklage wegen Gefährdung der nationalen Sicherheit, wie ein Sprecher der Demokratiebewegung mitteilte.

Es handele sich um eine inszenierte Anschuldigung, um die freie Meinungsäußerung zu unterdrücken, sagte Snaks Anwalt Dmitri Lajewski. Im Fall einer Verurteilung drohen Snak - wie der wegen der gleichen Vorwürfe inhaftierten Kolesnikowa - bis zu fünf Jahre Gefängnis.

Der Jurist Snak gehört zum Präsidium des Koordinierungsrats der belarussischen Zivilgesellschaft für einen friedlichen Machtwechsel. Lukaschenkos Machtapparat geht seit Wochen mit Festnahmen und Razzien gegen das Gremium vor. Die meisten Präsidiumsmitglieder sind entweder in Haft oder im Ausland. In Freiheit in Minsk sind nur noch die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch und seit Freitag auch wieder der Gewerkschafter Sergej Dylewski.

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