Berlin. Der Terrorangriff auf die Crocus City Hall trägt die Handschrift des IS. Ein Experte erläutert, welches Manöver Putin jetzt versucht.

  • Terror in Moskau: Mindestens 133 Menschen sterben bei einem Anschlag auf ein Konzert
  • Russlands Präsident Wladimir Putin zeigt nur einen Tag später mit dem Finger Richtung Ukraine, dabei hatte die Terrororganisation Islamischer Staat die Tat bereits für sich reklamiert
  • Der renommierte Terrorismusexperte Peter R. Neumann gibt seine Einschätzung zum Angriff in Moskau ab

Der Terrorangriff auf das Konzerthaus Crocus City Hall bei Moskau mit vielen Toten und Verletzten sorgt international für Entsetzen. Der „Islamische Staat“ (IS) hat sich zu der Tat bekannt – doch Russland sät Zweifel an der IS-Urheberschaft. Für den Terrorismusexperten Peter R. Neumann vom Londoner King‘s College ist der Fall aber eindeutig.

Herr Neumann, warum halten Sie das Bekennerschreiben des IS für echt?

Peter R. Neumann: Ich verfolge seit zehn Jahren, was der Islamische Staat treibt. Ich habe also schon wirklich viele von diesen Bekennerschreiben gesehen, und dieses hier sieht genauso aus wie alle anderen auch. Es gibt überhaupt keinen Zweifel daran. Man schaut sich immer zwei Dinge an: Zum einen, über welche Kanäle wurde dieses Schreiben verbreitet? Es gibt verschiedene offizielle IS-Kanäle, und alle haben am Freitag dieses Bekennerschreiben verteilt. Das deutet darauf hin, dass es tatsächlich vom IS kommt.

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Was ist der zweite Aspekt?

Man schaut sich die Sprache an. Der IS hat über die Jahre einen Code entwickelt. Da ist nicht von Selbstmordattentätern die Rede, sondern von Märtyrern. Im Fall bei Moskau hieß es, die Attentäter hätten sich in ihre Basen zurückgezogen. Das ist der Code dafür, dass es sich um einen Anschlag handelt, bei dem die Täter flüchten und überleben. Dazu kommt noch: Wir hatten einen Anschlag, der genau dem Modus Operandi des IS folgt. Außerdem haben die Amerikaner am 7. März vor genau einem solchen Anschlag gewarnt. Und: Mittlerweile wissen wir, dass alle mutmaßlichen Attentäter tadschikischer Herkunft sein sollen, also aus einer Gegend stammen, in der der sehr aggressive IS-Ableger ISPK besonders stark ist. Mit einem Satz: Alle Belege, die wir bisher haben, deuten in die Richtung des IS.

Zur Person

Peter R. Neumann lehrt und forscht als Professor für Sicherheitsforschung am Londoner King‘s College. Er gründete das International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR), das er von 2008 bis 2018 leitete. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in Radikalisierung und Gegenstrategien, Terrorismus, bewaffneten Aufständen sowie Geheimdiensten.

Worin sehen Sie noch die Handschrift der ISPK-Splittergruppe?

Es heißt außerdem im Schreiben, man habe einen Anschlag auf eine „große Ansammlung von Christen“ verübt – dabei handelte es sich um ein Rockkonzert, man fragt sich: Was soll das mit Religion zu tun haben? Das ist aber typisch für den IS. Seit etwa sechs Monaten versucht die ISPK-Gruppe verzweifelt, auf christliche Symbole auch im Westen Anschläge zu verüben. Denken Sie an die Anschlagspläne gegen den Kölner Dom vor Weihnachten oder gegen den Wiener Stephansdom. Das ist momentan ihr Fokus. Deswegen versucht man, den Anschlag auf ein Rockkonzert als Angriff auf eine „große Ansammlung von Christen“ zu verkaufen.

Ist der Anschlag als Reaktion auf ein bestimmtes Ereignis zu verstehen?

Nein. Das wäre zu kurz gedacht. Die Art von Anschlag wie in der Crocus City Hall wird wochen- oder monatelang vorbereitet. Der ISPK versucht seit zwei Jahren mit aller Kraft, sich im nichtmuslimischen Ausland durch einen großen Anschlag in die Führerschaft des IS zu katapultieren. Es ist der einzige IS-Ableger, der momentan die Kapazität zu so etwas hat. Dem ISPK ist letztlich nicht so wichtig, womit der Terrorakt in Zusammenhang steht. Die Warnung der Amerikaner Anfang März enthielt übrigens die Information, es könne binnen 48 Stunden dazu kommen. Möglicherweise sollte es also schon vor zwei Wochen passieren und wurde aus uns unbekannten Gründen verschoben.

Wie erklären Sie sich, dass der FSB nicht rechtzeitig auf diese Warnungen reagiert hat?

Das war rückblickend natürlich ein Fehler von Putin. Jetzt sieht es so aus, als wäre er nachlässig und dumm. Die islamistische Bedrohung gibt es in Russland nach wie vor. Nun sieht es aus, als würde er sie nicht ernstnehmen und als hätte er bei einem seiner zentralen Versprechen – die Russen vor so etwas zu schützen – versagt. Deswegen sehen wir jetzt eine völlig absurde Desinformationskampagne, die ich noch bei keinem Anschlag erlebt habe.

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Was wird da versucht?

Russische Kanäle versuchen, Zweifel an der Echtheit des Bekennerschreibens zu streuen und dass die Ukrainer etwas damit zu tun haben könnten. Es wird behauptet, dass die Amerikaner – wegen ihrer Warnung Anfang März – selbst daran beteiligt gewesen sein könnten. Ziel ist letztlich, es der Ukraine in die Schuhe zu schieben und, wichtiger noch, vom eigenen Versagen abzulenken.