London. Seit 100 Tagen ist Rishi Sunak Premierminister in Großbritannien – seine Bilanz ist durchwachsen. Er kämpft mit zahlreichen Affären.

Eigentlich wollte Rishi Sunak (42) diese Woche über das Gesundheitssystem reden. Genauer gesagt, über seinen Rettungsplan für die Notfallmedizin, den er am Montag vorstellte – mehr Spitalbetten, mehr Ambulanzen. Aber stattdessen sprachen alle über den jüngsten Regierungsskandal, der dem Premierminister zu schaffen macht.

Am Sonntag hatte Sunak den Kabinettsminister und Tory-Parteivorsitzenden Nadhim Zahawi gefeuert. Wochen zuvor war bekannt geworden, dass dieser eine saftige Summe an Steuern nachzahlen musste, inklusive Strafgeld. Weil er jedoch über seine Steuerprobleme nicht genügend transparent gewesen war, hatte er sich mehrerer schwerer Verstöße gegen den Ministerialkodex schuldig gemacht hatte – so das Fazit des regierungseigenen Ethikberaters.

Der Entscheid, Zahawi kurzerhand zu schassen, war denn auch konsequent. Aber noch scheint die Affäre nicht vorbei. Oppositionspolitiker und Journalisten haben weitere Fragen, insbesondere an den Premierminister: Hätte Sunak seinen Minister nicht schon viel früher feuern sollen? Wieso hatte er ihn im vergangenen Herbst überhaupt ernannt, zumal er offenbar über die Steuerprobleme Bescheid wusste?

Rishi Sunak: Bescheidene Drei-Monats-Bilanz

Die Episode verweist auf einige grundlegende Probleme, mit denen Sunak hadert. Am Donnerstag wird der Premierminister seine ersten 100 Tage als Regierungschef absolviert haben. Die Bilanz seiner ersten drei Monate in der Downing Street ist eher bescheiden.

Wird es ein Comeback Boris Johnsons geben? In Westminster wird spekuliert, ob der ehemalige Premierminister seine Rückkehr ins Amt plant.
Wird es ein Comeback Boris Johnsons geben? In Westminster wird spekuliert, ob der ehemalige Premierminister seine Rückkehr ins Amt plant. © Daniel Leal/PA Wire/dpa

Zwar hat es Sunak geschafft, der Tory-Regierung einen Anstrich von Nüchternheit und Seriosität zu verleihen – Eigenschaften, die man unter seinen Vorgängern Boris Johnson und Liz Truss schwer vermisst hatte. Aber darüber hinaus hat er wenig vorzuweisen. Sunak bleibt zögerlich und blass. Er hangelt sich von Woche zu Woche und hinkt dem politischen Geschehen hinterher, anstatt eine klare Strategie zu verfolgen. Antworten auf die großen Probleme des Landes scheint er keine zu haben.

Sunaks Notfallplan für NHS "zu wenig"

Zum Beispiel beim NHS (National Health Service, „Nationaler Gesundheitsdienst“), der laut Gesundheitsexperten kurz vor dem Kollaps steht. Gemäß dem Notfallplan, den Sunak am Montag vorstellte, werden in den kommenden zwei Jahren 800 zusätzliche Ambulanzen unterwegs sein, zudem werden 5000 Krankenhausbetten aufgestellt. Aber das sei wohl „zu wenig, zu spät“, urteilt der Thinktank Institute for Government in einem neuen Arbeitspapier; eine langfristige Lösung müsse her, um Geld- und Arbeitskräftemangel zu beheben. Der Verband der Notfallmediziner warnte zwar Anfang Januar, dass jede Woche rund 500 Menschen sterben, weil die Notaufnahmen so überlastet sind – aber Sunak konnte sich vor einigen Wochen nicht einmal zum Zugeständnis durchringen, dass der NHS in einer Krise steckt.

Auch in der Krise der Lebenshaltungskosten, die den Hintergrund bildet zur größten Streikbewegung seit langer Zeit, agiert Sunak unbeholfen. Obwohl Statistiken zeigen, dass Lohnabhängige im öffentlichen Sektor am meisten unter den steigenden Kosten leiden, weigert sich Sunak, Lohnverhandlungen zu eröffnen. Es ist kein Geld da, und basta, lassen seine Minister verlauten. So weiten sich die Arbeitskämpfe immer weiter aus, am Mittwoch werden erstmals mehrere hunderttausend Lehrer in den Ausstand treten, zusammen mit Eisenbahnangestellten und Unilektoren. Es wird der größte Streiktag seit Jahrzehnten.

Rishi Sunak wegen interner Flügelkämpfe oft zögerlich

Dass Sunak oft zögerlich vorgeht und selten den Eindruck macht, als habe er seine Partei unter Kontrolle, ist auch den internen Flügelkämpfen geschuldet. Um zum Beispiel die Wirtschaft auf Vordermann zu bringen, wäre mehr Migration dringend nötig; aber für viele seiner Parteikollegen hat gerade die Beschränkung der Einwanderung höchste Priorität – sollte Sunak eine Öffnung versprechen, würde er umgehend einen Aufstand in den eigenen Reihen provozieren.

Andere Tories fordern dringend Steuersenkungen, um das Wachstum anzukurbeln. Aber Sunak sagt: Angesichts der Lage der öffentlichen Finanzen liegt das nicht drin. „Auf der einen Seite verstehe ich, dass er sich nicht konstant Gefechte mit seinen Abgeordneten liefern will“, sagte ein anonymer Tory-Hinterbänkler gegenüber der „Huff Post“. „Aber wir sind jetzt in einer Situation, wo wir nicht wissen, wofür die Regierung steht.“

Nadhim Zahawi verlässt die Parteizentrale der Konservativen Partei in Westminster. In Großbritannien kommt die konservative Regierung von Premierminister Sunak aus den Negativ-Schlagzeilen nicht heraus. Wegen einer Steueraffäre entließ Sunak den Generalsekretär seiner Tory-Partei, Nadhim Zahawi, und warf ihn auch aus dem Kabinett.
Nadhim Zahawi verlässt die Parteizentrale der Konservativen Partei in Westminster. In Großbritannien kommt die konservative Regierung von Premierminister Sunak aus den Negativ-Schlagzeilen nicht heraus. Wegen einer Steueraffäre entließ Sunak den Generalsekretär seiner Tory-Partei, Nadhim Zahawi, und warf ihn auch aus dem Kabinett. © Alastair Grant/AP/dpa

Dazu kommen die Affären, die immer wieder die Schlagzeilen beherrschen. Nadhim Zahawi ist bereits der zweite Minister, den Sunak in den ersten 100 Tagen verloren hat. Bald könnte noch ein dritter hinzukommen: Justizminister und Vize-Premier Dominic Raab, gegen den eine Untersuchung wegen Mobbing läuft. Erneut sind Fragen laut geworden, was der Premierminister über die Vorwürfe gegen Raab wusste, bevor er ihn zu seinem Stellvertreter machte. Gerade für Sunak, der als Saubermann angetreten war und den endlosen Skandalen, die in Westminster für Furore sorgten, endlich ein Ende setzen sollte, sind solche Affären überaus schädlich.

Lesen Sie auch – Britischer Premier: Gerüchte über ein Johnson-Comeback

Das zeigen auch Umfragen. Letzte Woche sanken Sunaks Zustimmungswerte auf den tiefsten Punkt seit seinem Antritt als Premier. Freilich ist er immer noch beliebter als die Partei selbst: Die Umfragewerte für die Tories bleiben weiterhin mies, die Partei hinkt rund zwanzig Prozentpunkte hinter der Labour-Partei her. Jene Sunak-Anhänger, die gehofft hatten, dass der neue Premier die Partei aus ihrem Loch herausführen könne, sind bitter enttäuscht worden. In Westminster kommt man zunehmend zum Schluss, dass Sunak keine Erneuerung der Tory-Partei einleiten kann, sondern vielmehr dazu da ist, ihren Niedergang zu verwalten.