Moskau. Tag für Tag werden in Moskau Blumen für die Opfer von Dnipro abgelegt. Der Ort wird zum Mahnmal. Nun bezieht die Polizei Stellung.

Es ist ein stiller Protest. Gedenken an die Toten von Dnipro. Ganz und gar unpolitisch, und gerade deshalb so politisch. Schweigend legen die Menschen Blumen und Kuscheltiere nieder. Denn auch Kinder waren unter den Opfern, auch ihrer soll gedacht werden an einem Denkmal, mitten im Moskauer Zentrum, in einen kleinen Park nahe des Kiewer Bahnhofes.

Sie empfinden einfach nur Trauer, sagen sie. Zum Für und Wider des Krieges, der in Russland nach wie vor „Spezialoperation“ genannt werden muss, mag sich niemand äußern. Bei dem Angriff auf Dnipro, der Großstadt in der zentralukrainischen Region Dnipropetrowsk, wurden mindestens 45 Menschen getötet und etwa 80 verletzt. Noch immer werden ukrainischen Angaben zufolge 20 Bewohner vermisst. Der Beschuss war Teil der heftigsten russischen Angriffswelle auf die Ukraine seit Jahresbeginn.

Ukraine-Krieg: Der Kreml gibt Kiew die Schuld

Russland hatte die Verantwortung für den tödlichen Raketeneinschlag in Dnipro bestritten und die Schuld Kiew zugeschoben. „Kräfte der ukrainischen Flugabwehr haben die russische Rakete, die auf ein Objekt der Energieinfrastruktur zielte, abgeschossen“, sagte Russlands UNO-Vertreter Wassili Nebensja auf einer Sitzung des UNO-Sicherheitsrats in New York. Dabei habe die Flugabwehr der Ukrainer in einem Wohnviertel gestanden, was gegen internationale Normen verstoße. Deshalb sei auch die Rakete auf ein Wohnhaus gestürzt, so Nebensja.

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Kiew bestreitet diese Darstellung. Ukrainischen Angaben nach handelte es sich bei der Rakete um einen Marschflugkörper vom Typ Ch-22, der vor allem als Antischiffsrakete eingesetzt wird. Die extrem hohe Fluggeschwindigkeit mache einen Abschuss durch die Flugabwehr praktisch unmöglich. Allerdings gilt die Rakete als nicht besonders zielgenau. Die ukrainische Flugabwehr hat bereits dementiert, dass sie in der Lage wäre, eine solche Rakete abzufangen.

370 Anklagen in Strafverfahren wegen Antikriegsaussagen

Den Menschen, die am Moskauer Denkmal Blumen niederlegen, ist der Streit um die Verantwortung für die Zerstörung des Wohnhauses in Dnipro egal. Junge wie Ältere sind gekommen. Öffentliche Antikriegs-Aktionen sind in Russland angesichts massiver Repressionen sehr selten geworden.

Tag für Tag legen die Menschen Blumen und Kuscheltiere für die Opfer von Dnirpo vor das Denkmal in Moskau, Tag für Tag werden sie weggeräumt. Jetzt bewacht die Polizei das Denkmal.
Tag für Tag legen die Menschen Blumen und Kuscheltiere für die Opfer von Dnirpo vor das Denkmal in Moskau, Tag für Tag werden sie weggeräumt. Jetzt bewacht die Polizei das Denkmal. © AFP | -

Unmittelbar nach Beginn der Invasion in die Ukraine gab es Demonstrationen in vielen russischen Städten. Die Bürgerrechtsorganisation OVD-Info spricht von mehr als 21.000 Verhaftungen und mindestens 370 Anklagen in Strafverfahren wegen Antikriegsaussagen und -reden, mehr als 200.000 Internetadressen seien gesperrt worden. Doch seit Monaten gibt es kaum noch größere Proteste gegen den Einmarsch ins Nachbarland, den Präsident Wladimir Putin vor fast elf Monaten angeordnet hat. Um so mutiger sind die Menschen, die mitten in Moskau der Opfer von Dnipro gedenken.

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Machtkampf zwischen der Polizei und den Trauernden

Gewidmet ist das Denkmal, an dem sie ihre Blumen niederlegen, der ukrainische Dichterin Lessja Ukrajinka. Sorgfältig wird es von der Moskauer Stadtverwaltung gepflegt. Auch noch nach Beginn der „Spezialoperation“. Lessja Ukrajinka wurde unter dem Namen Larissa Petriwna Kosatsch 1871 geboren. Sie war Kämpferin, Feministin. In ihren Gedichten spielt die Sehnsucht nach Freiheit eine große Rolle. „Gegen die Hoffnung hoffe ich!“ heißt ihr wohl bekanntestes Werk. Nicht zufällig haben die unbekannten Initiatoren der Protestaktion gerade dieses Denkmal gewählt.

Ganz zu Anfang haben die Trauernden auch ein Schwarz-Weiß-Foto des zerstörten Wohnhauses aufgestellt. Doch das hat die Moskauer Stadtreinigung schnell abgeräumt. Seitdem herrscht ein kleiner Machtkampf zwischen den Behörden und den Trauernden: Immer wieder werden die Blumen und Bilder entfernt, doch Tag für Tag, Nacht für Nacht kommen Menschen und bringen neue.

Vor dem Denkmal steht ein Streifenwagen, zwei Polizisten überwachen das Geschehen, nehmen manchmal die Personalien der Trauernden auf, die Blumen bringen. Es habe auch Festnahmen gegeben, teilt die Bürgerrechtsorganisation OVD-Info mit. Einem der Festgenommen, der die ganze Nacht auf der Polizeiwache festgehalten wurde, werde „geringfügiges Rowdytum“ vorgeworfen.

Blumen und Kuscheltiere liegen vor einem Foto der zerstörten Wohnhäuser von Dnipro.
Blumen und Kuscheltiere liegen vor einem Foto der zerstörten Wohnhäuser von Dnipro. © AFP | -

Auch in anderen Städten tauchen Blumen, Kuscheltiere, Fotos und Kerzen auf

Nicht nur in Moskau, auch in anderen russischen Städten tauchten Blumensträuße und Kuscheltiere im Gedenken an die Opfer von Dnipro auf. In Krasnodar brachten Menschen Blumen, Fotos, Kerzen und Kinderspielzeug an das Denkmal des ukrainischen Dichters Taras Shevchenko. Dies berichtet das Onlinemedium „Meduza“. In Sankt Petersburg legten die Einwohner mit Kerzen das Wort „Dnepr“ aus. Und auch in Jekaterinburg gedachten die Menschen den Toten von Dnipro.

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Ihr Beispiel zeigt: Es gibt noch Zivilcourage in Russland. Trotz aller Repression, trotz der Inhaftierung oder Vertreibung vieler Oppositioneller ins Ausland. Zeigt, dass die Menschen in Russland nicht einerseits eine kriegslüsterne Masse und andererseits eine durch Schweigen mitschuldige Mehrheit sind.

Das Gedenken am Moskauer Denkmal, der stille Protest anstelle von Demonstrationen und Antikriegs-Parolen, verunsichert offenbar die Behörden. „Meduza“ erzählt die Geschichte eines Teilnehmers, der am Denkmal Fotos machte. Ein Polizist sei auf ihn zugekommen und habe gesagt: „Ich weiß, dass Sie das Recht haben, Fotos zu machen, ich selbst verstehe nicht, warum Sie das nicht dürfen, aber die Behörden haben gesagt, dass sie das nicht dürfen, also lösche das Foto.“

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