Weißenfels. Mehr als 200.000 geflüchtete Kinder und Jugendliche aus der Ukraine gehen in Deutschland zur Schule. Wie geht es ihnen? Eine Bilanz.

„Nach vielen Tagen erreichte Elisa das große Meer.“ Langsam und konzentriert liest Ulina aus dem Märchen „Die wilden Schwäne“ des dänischen Autors Hans Christian Andersen. „Auf den Wellen schaukelten elf Schwanenfedern.“ Mal verschluckt Ulina eine Silbe, mal stolpert sie über ein Wort, doch es ist bemerkenswert, wie souverän sie die Sätze vorliest.

Ulina, ein aufgewecktes Mädchen, sieben Jahre alt, verschmitztes Lächeln, spricht noch nicht lange Deutsch. Sie kommt aus der Ukraine, aus dem Kiewer Vorort Irpin. Dort lebte sie bis zum 24. Februar dieses Jahres, jener Tag, an dem Putin die Invasion begann. Mit ihrer Familie floh Ulina zuerst in die Westukraine, von dort nach Leipzig. Wenige Wochen nach ihrer Flucht verübten russische Soldaten in Irpin einen Massenmord an Zivilisten.

Schulen: Weniger ukrainische Geflüchtete als erwartet

Seit Mai lebt Ulina in Weißenfels, Sachsen-Anhalt. Eine Kleinstadt mit etwas mehr als 30.000 Einwohnern im Burgenlandkreis. Hier besucht Ulina eine Willkommensklasse an der Albert-Einstein-Grundschule. Insgesamt 20 ukrainische Kinder zwischen sieben und elf Jahren werden an der Schule in einer solchen Klasse unterrichtet. Sie kommen aus Kiew und Charkiw, aus Lwiw und der Region Donezk. Einige von ihnen, wie Ulina, sind schon seit Frühling in Weißenfels. Andere, wie die neunjährige Camilla, sind erst im Herbst angekommen.

Seit Kriegsausbruch haben Schulen in Deutschland rund 202.000 Kinder und Jugendliche aus der Ukraine aufgenommen. Das sind zwar weniger als erwartet – die bisherige Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), Karin Prien, rechnete im April mit bis zu 400.000 Schülerinnen und Schülern aus der Ukraine. Aber es sind, nur zum Vergleich, immer noch mehr Kinder und Jugendliche, als in ganz Mecklenburg-Vorpommern zur Schule gehen. Für ein System, das vielerorts wegen Personalmangels und den Folgen der Corona-Pandemie an die Belastungsgrenze stößt, ist das eine Menge.

Integration in den Bundesländern: „Ein bunter Flickenteppich“

Dass die ukrainischen Schülerinnen und Schüler schnellstmöglich in das deutsche Schulsystem integriert werden sollen, da sind sich die Bundesländer einig. Im Juni, kurz vor den Sommerferien, erklärte Prien die baldige Teilnahme der Geflüchteten am Regelunterricht zur „unerlässlichen Grundvoraussetzung“. Schaut man sich eine Länderumfrage des Mediendienstes Integration an, wird klar: Von einer einheitlichen Vorgehensweise kann nicht die Rede sein.

Der Umfrage zufolge lernen die geflüchteten Schüler nur mancherorts vorzugsweise in Regelklassen – darunter in Brandenburg und Thüringen. Länder wie Berlin und Schleswig-Holstein haben eigene Klassen – Willkommens- oder Vorbereitungsklassen – für die Neuankömmlinge eingerichtet. Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt mischen die Modelle oder lassen die Schulen entscheiden. Bei der Beschulung hat sich „ein bunter Flickenteppich“ ergeben, kritisiert zum Beispiel die Soziologin und Integrationsforscherin Julianne Karakayali.

Welches Vorgehen bei der Integration am besten ist, wird in Deutschland spätestens seit der Ankunft Hunderttausender Geflüchteter im Sommer 2015 heiß diskutiert. Eine Antwort liefert eine neue Studie des RWI-Instituts für Wirtschaftsforschung in Essen, zumindest für Grundschulen. Dafür werteten Forscherinnen Daten aus Hamburg aus, die zwischen 2013 und 2019 erhoben wurden. Das Ergebnis ist eindeutig: Demnach lernen geflüchtete Schülerinnen und Schüler in Regelklassen mehr als in Willkommensklassen. Vor allem: Sie lernen auch mehr Deutsch.

Weißenfels: Zwei ukrainische Lehrkräfte unterrichten die Kinder

An einem verschneiten Morgen steht Olena Moisieieva vor elf ukrainischen Schülerinnen und Schülern. Sie ist eine von zwei ukrainischsprachigen Fachkräften an der Albert-Einstein-Grundschule, die die Kinder in der Willkommensklasse unterrichten. Das Landesschulamt hat die beiden Lehrerinnen extra für diese Aufgabe eingestellt.

Auch Olena Moisieieva hat wegen des Kriegs die Ukraine verlassen. In ihrer Heimat Charkiw lehrte sie an der Uni. Hier in Weißenfels bringt sie den Kindern Deutsch und Englisch bei – allerdings ohne Noten. Ihre Kollegin, die ukrainische Grundschullehrerin Yatsuik Ruslana, unterrichtet Mathe und Ukrainisch.

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Olena Moisieieva ruft die Kinder nacheinander auf. Auf Deutsch sollen sie sagen, wie sie heißen, woher sie kommen, welche Hobbys sie haben. Manche sprechen schon recht flüssig, einige tun sich sehr schwer mit der neuen Sprache. Unsicher schauen sie nach unten oder an die Decke.

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„Je jünger die Kinder sind, desto besser kommen sie unter den neuen Bedingungen zurecht“, hat Moisieieva beobachtet. Daher vermutet sie, dass die Integration der siebenjährigen Ulina vergleichsweise gut funktioniert. Doch abgesehen vom Alter hänge auch viel vom Integrationswillen in den Familien ab. Die Lehrerin berichtet von einem Schüler, der seine Deutschaufgaben nicht machen wollte. Sein Vater hätte ihm gesagt, dass es sich nicht lohne, Deutsch zu lernen, weil die Familie bald in die Ukraine zurückkehren würde.

Beide sprechen Deutsch schon recht flüssig: Ulina (links) aus Irpin und Camilla (rechts) aus der Region Donezk.
Beide sprechen Deutsch schon recht flüssig: Ulina (links) aus Irpin und Camilla (rechts) aus der Region Donezk. © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

„Mir ist es wichtig, dass die ukrainischen Kinder erst mal ein Gefühl der Stabilität bekommen“, sagt Schulleiter Christopher Hesselbarth in seinem Büro. Warum er auf Willkommensklassen setzt? „Die Kinder sind zum Teil schwer traumatisiert, haben zerstörte Häuser gesehen und Bombenalarm miterlebt“, sagt Hesselbarth. „Sie sollen eine feste Bezugsgruppe haben. Daher habe ich mich gewehrt, sie sofort auf die Regelklassen zu verteilen.“

Die Ankunftsklasse besteht noch bis Juni 2023

Derzeit nehmen die ukrainischen Schülerinnen und Schüler nur am regulären Sportunterricht teil, ab Januar sollen sie in den Kunstunterricht integriert werden. Beides Fächer, in denen man mit wenigen Brocken Deutsch zurechtkommt. Danach planen sie mit einer schrittweisen Eingliederung in weitere Fächer. Auch in den Deutschunterricht? „Das wird in diesem Schuljahr wahrscheinlich nicht passieren“, sagt Hesselbarth. „Dafür brauchen die Ukrainer ein enormes sprachliches Wissen.“

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Die Ankunftsklasse an der Albert-Einstein-Grundschule besteht noch bis Juli. Schon jetzt ist klar, dass nicht alle ukrainischen Kinder bleiben werden. „Einige werden auf eine weiterführende Schule gehen, andere auf Schulen, die in ihrem Einzugsgebiet liegen“, sagt Hesselbarth. Aktuell rechnet der Schulleiter mit acht ukrainischen Kindern im nächsten Schuljahr.

Olena Moisieieva im Deutschunterricht mit den Kindern aus der Ukraine.
Olena Moisieieva im Deutschunterricht mit den Kindern aus der Ukraine. © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

Bildungsexpertin: Schulsystem steht vor dem „Kollaps“

Die Kultusministerkonferenz gibt sich recht zufrieden mit der bisherigen Eingliederung der ukrainischen Kinder und Jugendlichen. Das deutsche Schulsystem habe laut der bisherigen KMK-Vorsitzenden Karin Prien eine „großartige Integrationsleistung“ gestemmt. Die Aufnahme an den Schulen sei vielerorts „relativ geräuschlos“ gelungen.

„Zu dieser Bewertung kann man nur kommen, wenn man die Augen vor der Realität im Schulalltag verschließt“, kritisiert dagegen Anja Bensinger-Stolze, die im Vorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) für das Thema Schule zuständig ist. Der Mangel an Lehrkräften und Räumen sei bereits vor dem Ukraine-Krieg ein „hausgemachtes“ Problem gewesen. Wegen der permanenten Überlastung stehe das Bildungssystem nun vor dem Kollaps.

Um die Integrationen der Geflüchteten aus der Ukraine zu stemmen, würden an den Schulen dringend „Multiprofessionale Teams“ benötigt – aus Lehrpersonal, Erzieherinnen, Sozialarbeitern, Psychologinnen und ukrainischen Fachkräften. Diese sollten aber nicht nur kurzfristig in Willkommensklassen eingesetzt werden, sondern auch im Regelunterricht. „Sie brauchen bessere und langfristige Beschäftigungsperspektiven“, mahnt Bensinger-Stolze.

Damit die geflüchteten Kinder und Jugendlichen in Deutschland schnell Fuß fassen können, sagt Bensinger-Stolze, ist eine schnelle Aufnahme in den Regelunterricht „wünschenswert und pädagogisch richtig.“ In dem Punkt sind sich Bildungsexpertinnen und Bildungsminister einig.

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