Berlin. Seit Beginn des Kriegs sind 100.000 IT-Experten aus Russland geflohen. Das Eingeständnis ist wie ein Rendezvous mit der Wirklichkeit.

Seit zehn Monaten führt Kremlchef Wladimir Putin einen erbarmungslosen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Er bezahlt dafür einen hohen Blutzoll, angeblich mit nahezu 100.000 gefallenen Soldaten. Was oft vergessen wird: Russland blutet auch ökonomisch und technologisch aus.

Was monatelang verleugnet und tabuisiert wurde, hat Digitalminister Maxut Schadajew jetzt in Moskau eingeräumt: Die Flucht von 100.000 IT-Experten. Für russische Verhältnisse kommt das Eingeständnis einem Rendezvous mit der Wirklichkeit gleich.

Ukraine-Krieg: Die Experten flohen in zwei Wellen

IT-Fachkräfte, Webentwickler und Softwareingenieure – seit Ende Februar/Anfang März verlassen sie ihr Heimatland in Scharen. Über die Gründe kann man nur spekulieren. Wegen der westlichen Sanktionen? Wegen Putins "militärischer Spezialoperation"? Für letzte Annahme spricht der Zeitpunkt. Die erste Welle verließ das Land nach Ausbruch des Ukraine-Krieges, eine zweite Welle nach der Teilmobilmachung im Herbst.

Schon im Frühjahr hatten Ökonomen den so genannten Braindrain vorausgesagt. Damals wurde berichtet, dass beispielsweise die Deutsche Bank ihren Programmierern in Moskau und St. Petersburg anbot, nach Deutschland zu wechseln. Laut Minister Schadajew sind tatsächlich "bis zu zehn Prozent der Mitarbeiter von IT-Unternehmen ausgereist und nicht wiedergekommen". Bei einer Anhörung vor dem Parlament in Moskau beteuerte er allerdings, dass 80 Prozent von ihnen weiterhin bei russischen Unternehmen beschäftigt seien.

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Das ist glaubhaft in Zeiten von Homeoffice, aber auch weil die meisten von ihnen in Heimatnähe geblieben sind: in angrenzenden Ex-Sowjetrepubliken. Das spricht dafür, dass viele nur einer Einberufung zuvorkommen wollten, obwohl Putin sie formalrechtlich vom Kriegsdienst ausgenommen hat.

Ukraine-Krieg: Die "Vaterlandsverräter" müssen Strafaktionen befürchten

Als beliebteste Fluchtziele gelten aber auch die Türkei, die Vereinigten Arabischen Emirate, Armenien, Georgien und einige Staaten Südostasiens. Schwieriger ist es, in der EU Fuß zu fassen, beispielsweise im nahen Baltikum. Litauen hält sich erklärtermaßen zurück mit Visa, weil der IT-Sektor in Russland eng mit den Geheimdiensten verflochten ist; und infolgedessen die Gefahr bestehe, "Teile des kriminellen Systems Russlands zu importieren.“

In Russland werden die geflüchteten IT-Experten schon mal als "Vaterlandsverräter" an den Pranger gestellt. Regierung und Parlament beraten darüber, den Ausgereisten zu verbieten, für russische Unternehmen zu arbeiten. So will man der "Ohne-mich"-Bewegung der IT-Experten die Existenzgrundlage zu entziehen.

Das erklärt auch, warum Minister Schadajew den Exodus der Experten gerade jetzt erstmals öffentlich bestätigte und davor warnte, ihnen die Arbeit aus dem Homeoffice zu verbieten. Er will sie halten. Denn es sind nicht die schlechtesten Russen, die ihr Glück in der Ferne suchen – gebildete junge Leute, die dem Klima aus Misstrauen und Propaganda entfliehen oder schlicht und einfach nicht ihr Leben aufs Spiel setzen wollen.

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