Slowjansk. Die ukrainische Stadt Slowjansk wird von Putin nun als eine russische angesehen. Hier zeigt sich, das Ende des Krieges ist weit weg.

Vor dem vierstöckigen Gebäude an der Swetlodarska fegen Frauen in gelben Warnwesten die Trümmer von der Straße, ein Dieselgenerator brummt, eine Säge kreischt, Männer werfen verbogenes Metall und Steine aus den Wohnungen. In einigen Appartements haben sie schon Sperrholzplatten anstatt des zersplitterten Fensterglases eingesetzt.

Vor ein paar Tagen ist hier auf der Straße vor dem Wohngebäude eine Rakete eingeschlagen, jetzt flicken Andriy Kiskhin und seine Leute von der städtischen Firma „Blagoustrii“ die gröbsten Schäden, reparieren zerborstene Leitungen, machen die Wohnungen winterfest. Alltag in Slowjansk, einer Stadt in der Ostukraine. Einer Stadt, die Moskau als eine russische ansieht.

Ukraine-Krieg: Nach den Explosionen machen sie sich auf den Weg

In Friedenszeiten waren die Frauen und Männer von Blagoustrii für die Reinigung und Verschönerung von Slowjansk zuständig. „Wir haben die Straßen gefegt, uns um die Pflanzen und die Grünanlagen gekümmert, erzählt Kiskhin, der amtierende Direktor des Unternehmens.

Der kräftige Mittfünfziger spricht Russisch, so wie fast alle Menschen im Osten und Süden der Ukraine. Mit dem Krieg haben sich die Aufgaben dramatisch geändert. „Jeden Morgen, wenn ich die Explosionen höre, fahre ich los, um nach den Schäden zu sehen“, berichtet Kiskhin. Mehr als zwei Dutzend Großeinsätze hätten sie in den vergangenen Monaten bereits gehabt.

Ukraine-Krieg: Früher war sie Ärztin, heute flickt sie Leitungen und Häuserwände

Manche, die hier arbeiten, hatten vor dem Krieg einen anderen Job. Natalia Dylenok, 47, war Ärztin in der Psychiatrie in Slowjansk. „Unsere Patienten sind weggebracht worden, um in Sicherheit zu sein. Ich bin geblieben, weil ich diese Stadt liebe“, erzählt sie, auf einen Besen gestützt.

Wiederaufbau in Slowjansk in der Ost-Ukraine.
Wiederaufbau in Slowjansk in der Ost-Ukraine. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Slowjansk ist eine der Städte in der Region Donezk, die noch unter ukrainischer Kontrolle sind. Nach der völkerrechtswidrigen und von der internationalen Gemeinschaft als Farce angesehenen Annexion eines Fünftel des ukrainischen Staatsgebiets ist die etwa 100 Kilometer nördlich der Regionalhauptstadt Donzek gelegene Kommune nun nach Moskauer Lesart eine russische Stadt. Der Föderationsrat, das russische Oberhaus, segnete die von Machthaber Wladimir Putin am vergangenen Freitag mit großem Pomp verkündete Entscheidung am Dienstag wie erwartet ab.

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Bürgermeister von Slowjansk verspottet die Regierung in Moskau

Vadim Lyakh lässt das völlig kalt. „2014 haben wir ihre Referenden, ihre Entscheidungen, ihre Dekrete nicht beachtet. Ebenso wenig schenken wir ihnen jetzt Aufmerksamkeit“, sagt der Bürgermeister von Slowjansk. Im Frühjahr und Sommer vor acht Jahren war seine Stadt kurzfristig unter der Kontrolle prorussischer Separatisten. Angeführt wurden sie von dem berüchtigten russischen Ultra-Nationalisten Igor Girkin alias Igor Strelkow, einem früheren Oberst des russischen Militärgeheimdienstes GRU.

Während der knapp viermonatigen Besetzung von Slowjansk führte Girkin ein brutales Regime und ließ mindestens drei Männer hinrichten. Im Juli 2014 übernahm die ukrainische Armee wieder die Kontrolle in der Stadt. Nach dem Beginn der großen russischen Invasion im Februar 2022 ist Slowjansk die erneute Besetzung bislang erspart geblieben. „Niemand in der Stadt hat Angst vor ihren Entscheidungen, niemand glaubt daran. Sie sind nur Hintergrundgeräusche“, spottet der Bürgermeister über die Regierung in Russland.

Slowjansk: „Die Stadt ist weiterhin gefährlich“

Im Spätsommer 2022 wird Slowjansk aber immer wieder bombardiert. „Erst in der vergangenen Woche ist ein altes, dreistöckiges Gebäude im Stadtzentrum zerstört worden. Eine Frau ist gestorben, drei Menschen wurden verletzt“, berichtet Lyakh.

Wegen der aktuellen militärischen Erfolge der ukrainischen Armee kehrten jedoch Menschen nach Slowjansk zurück, die in den vergangenen Monaten geflohen seien. „Wir sagen ihnen, dass es dazu noch zu früh ist. Die Stadt ist weiterhin gefährlich, die Frontlinie ist in der Nähe, auch wenn sie ein wenig zurückgedrängt werden konnte“, sagt der Bürgermeister.

Keiner der Arbeiter will unter russischer Kontrolle leben

Der Arbeiter Volodomyr Malevany, der an diesem Tag mit seinen Kollegen die Trümmer aus dem Wohnblock an der Swetlodarska entfernt, hat seine Frau und seine drei Kinder schon vor Wochen Richtung Westen in Sicherheit geschickt. Er ist geblieben. Eine bewusste Entscheidung. „Es ist meine Pflicht, hier zu bleiben“, sagt er, schränkt aber ein: „Wenn die Russen hierherkämen, würde ich die Stadt sofort verlassen. Mein Auto ist vollgetankt und bepackt.“ Keiner der gut zwei Dutzend Arbeiter hier will unter russischer Kontrolle leben.

LandUkraine
KontinentEuropa
HauptstadtKiew
Fläche603.700 Quadratkilometer (inklusive Ostukraine und Krim)
Einwohnerca. 41 Millionen
StaatsoberhauptPräsident Wolodymyr Selenskyj
RegierungschefMinisterpräsident Denys Schmyhal
Unabhängigkeit24. August 1991 (von der Sowjetunion)
SpracheUkrainisch
WährungHrywnja

Hinter dem Wohnhaus sitzt Halyna in einem Pavillon. Sie ist 64, Pensionärin, und sie ist verzweifelt, weil auch ihre Wohnung zerstört worden ist. „Ich muss hierbleiben, weil meine Mutter 85 ist und ich mich um sie kümmern muss.“ Sie sagt, sie verstehe all das nicht, was derzeit in ihrer Heimat geschehe. „Ich weiß nicht, was diese Leute von uns wollen. Wir haben doch früher in der Sowjetunion alle zusammengelebt. Wir brauchen doch keine Feinde zu sein.“ Alles, was sie wolle, sagt Halyna, sei Frieden. „Ich kann diesen Krieg nicht verstehen.“

Für ein rasches Kriegsende spricht wenig

Tatsächlich spricht wenig für ein rasches Ende des Krieges. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi hat am Dienstag per Dekret Verhandlungen mit seinem russischen Gegenpart Putin ausgeschlossen. Mittlerweile sind in Russland nach Angaben Moskaus im Zuge der Teilmobilmachung 200.000 Rekruten eingezogen worden. Derweil schaffen die ukrainischen Streitkräfte in diesen Tagen weitere militärische Fakten.

Auch nach der spektakulären Befreiung der nordöstlich von Slowjansk gelegenen Kleinstadt Lyman am vergangenen Wochenende berichtet Kiew über weitere Geländegewinne, mittlerweile stoßen ukrainische Truppen aus dem Raum Charkiw in die Region Luhansk vor. Im Süden der Ukraine scheint es ebenfalls massive Geländegewinne im Raum Cherson zu geben. Wie bereits im Osten und Nordosten scheinen sich dort russische Truppen zurückzuziehen.

Je näher die Stadt kommt, desto lauter wird der Donner der Geschütze

Unter Druck stehen die ukrainischen Streitkräfte allerdings an der Front südöstlich von Slowjansk, nahe der Kleinstadt Bachmut, die die russischen Streitkräfte bereits seit Monaten vergeblich versuchen einzunehmen. Von Slowjansk aus ist es etwa eine Autostunde Fahrt nach Bachmut.

Je näher die Stadt kommt, desto lauter wird der Donner der Geschütze, mit denen die Ukrainer unaufhörlich feuern. Zuletzt waren wir Ende Juli in der Kleinstadt. Jetzt, im September, ist die Stadt noch menschenleerer als zwei Monate zuvor. Die russischen Truppen scheinen sich näher an Bachmut herangearbeitet zu haben, gemessen jedenfalls an der Lautstärke der ausgehenden ukrainischen Artillerie, die direkt am Stadtrand zu stehen scheint.

Russland? Er verdreht die Augen und flucht

Am Morgen hat eine russische Rakete die wichtigste Brücke über den Fluss Bachmutka zerstört, ein Radfahrer ist bei dem Beschuss ums Leben gekommen. Im Zentrum der Stadt haben sich einige der wenigen verbliebenen Einwohner vor einer Lebensmittelausgabe versammelt. Hier steht ein Denkmal, das den „Befreiern des Donbass“ gewidmet ist, den sowjetischen Rotarmisten, die im September 1943 die Truppen Nazi-Deutschlands aus Bachmut vertrieben, das damals noch den Namen Artemiwsk trug.

Hinter dem Denkmal steigt aus einem Wohngebäude Rauch auf. Zwei Tage zuvor starben hier bei einem russischen Angriff eine Mutter und ihr Sohn. Zwei ukrainische Soldaten machen Aufnahmen von dem Gebäude, schauen ernst und wütend drein

Vor dem städtischen Rathaus in Bachmut wehen die ukrainischen Fahnen. Auf dem breiten Boulevard vor dem Gebäude fahren keine Autos mehr. Ein älterer Mann zieht einen Trolley mit Tüten hinter sich her. Wolodymyr ist hiergeblieben, weil er sich um seine Hunde Boomer und Dinka kümmern will, seine Frau ist mittlerweile in Polen. Seine beiden Söhne leben in Moskau. „Wir telefonieren noch manchmal miteinander“, sagt er. „Aber sie trauen sich am Telefon nicht das zu sagen, was sie denken.“ Russland? Er verdreht die Augen, flucht und spuckt auf den Asphalt.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.