Berlin. Kommen Ukrainer nur für die Sozialleistungen nach Deutschland? Die Bundesregierung gibt eine klare Antwort auf entsprechende Vorwürfe.

Die Aufgabe ist enorm: Rund eine Million ukrainische Staatsbürger sind nach Deutschland gekommen. „Russlands Krieg in der Ukraine hat die größte Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst“, beschreibt die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Reem Alabali-Radovan, die Lage. „Bund, Länder und Kommunen gehen die Aufnahme von rund einer Millionen Menschen in kürzester Zeit gemeinsam an.“ Das sei eine „große Herausforderung“, sagte die SPD-Politikerin unserer Redaktion.

Haben die deutschen Behörden angesichts der vielen Schutzsuchenden aus der Ukraine den Überblick verloren? Kommt es gar zum Missbrauch von Sozialleistungen? Den Vorwurf hatte CDU-Chef Friedrich Merz erhoben. „Wir erleben mittlerweile einen Sozialtourismus dieser Flüchtlinge: nach Deutschland, zurück in die Ukraine, nach Deutschland, zurück in die Ukraine“, sagte Merz. Von den Flüchtlingen mache „mittlerweile eine größere Zahl sich dieses System zunutze“.

Nach heftiger Kritik bedauerte Merz die Verwendung des Ausdrucks „Sozialtourismus“. Dies sei eine „unzutreffende Beschreibung eines in Einzelfällen zu beobachtenden Problems“. Seine Kritik habe „ausschließlich der mangelnden Registrierung der Flüchtlinge“ gegolten. Ein Überblick über die derzeitige Lage:

Wie viele Flüchtlinge aus der Ukraine sind nach Deutschland gekommen?

Im Ausländerzentralregister sind zum Stichtag 22. September 997.215 ukrainische Geflüchtete erfasst. Der Großteil davon sind Frauen und Kinder. Allerdings: Ein Teil von ihnen kann inzwischen Deutschland wieder verlassen haben. Ausreisen in andere Länder des Schengen-Raums lassen sich von den deutschen Behörden kaum nachvollziehen. Wie viele Ukrainer sich also aktuell hierzulande aufhalten, ist schwer zu sagen.

Ukrainische Flüchtlinge verlassen mit ihrem Gepäck eine Flüchtlingsunterkunft in Hamburg.
Ukrainische Flüchtlinge verlassen mit ihrem Gepäck eine Flüchtlingsunterkunft in Hamburg. © dpa | Marcus Brandt

Wie viele Ukrainer erhalten Sozialleistungen?

Anders als anderen Geflüchteten haben Flüchtlinge aus der Ukraine seit dem 1. Juni unmittelbar Zugang zum Hartz-IV-System, wenn sie eine Aufenthaltserlaubnis haben sowie hilfebedürftig und erwerbsfähig sind. Im August bekamen rund 546.000 ukrainische Staatsangehörige Grundsicherung für Arbeitsuchende, wie die Bundesagentur für Arbeit mitteilte. Darunter waren 355.000 Menschen im erwerbsfähigen Alter sowie 191.000 Kinder und andere nicht erwerbsfähige Leistungsberechtigte. Damit bezogen im August 529.000 mehr Ukrainer Grundsicherung als vor Kriegsbeginn im Februar.

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Gibt es Hinweise auf den Missbrauch von Sozialleistungen?

Weder dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales noch der Bundesagentur für Arbeit „liegen Erkenntnisse zu dem angeblichen ‚Sozialtourismus der Ukrainer‘ vor“, teilte eine Ministeriumssprecherin unserer Redaktion mit. „Die Bundesregierung ist sich der hohen Bedeutung der Bekämpfung von Leistungsmissbrauch bewusst und handelt entsprechend“, heißt es in einem Schreiben des Bundesinnenministeriums an die Abgeordneten im Innenausschuss des Bundestags, das unserer Redaktion vorliegt.

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Daher unterziehe die Bundesregierung ihre Maßnahmen einer fortlaufenden Prüfung. „Bislang liegen jedoch keine Erkenntnisse hinsichtlich eines gegenüber anderen Herkunftsländern erhöhten Anteils an Unregelmäßigkeiten bei dem Bezug von existenzsichernden Leistungen durch Geflüchtete aus der Ukraine vor“, erklärte das Innenministerium. Einzelfälle sind also nicht auszuschließen, ein größeres Problem, wie Merz es zunächst behauptet hatte, liegt demnach also nicht vor.

Ein ukrainischer Reisepass wird in der zentralen Erfassungsstelle für Ukraine-Flüchtlinge in Mecklenburg-Vorpommern für die Ausstellung des amtlichen Ankunftsnachweis von Mitarbeitern eingelesen.
Ein ukrainischer Reisepass wird in der zentralen Erfassungsstelle für Ukraine-Flüchtlinge in Mecklenburg-Vorpommern für die Ausstellung des amtlichen Ankunftsnachweis von Mitarbeitern eingelesen. © dpa | Jens Büttner

Woher kommen die Vorwürfe?

Seit einiger Zeit kursieren Berichten zufolge in sozialen Medien und Messengerdiensten Gerüchte, dass Ukrainer hierzulande Hartz IV beantragten, dann aber in ihre Heimat zurückkehrten. Demnach sollen Ukrainer dafür eine Flixbus-Verbindung zwischen Kiew und Berlin nutzen. „Wir sehen bereits seit Monaten eine hohe Nachfrage für Verbindungen zwischen Deutschland und der Ukraine“, teilte das Unternehmen auf Anfrage mit.

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Im August sei die Nachfrage im Vergleich zu den Vormonaten aber leicht zurückgegangen. „Zu den Vorwürfen von Herrn Merz gibt es keinerlei Hinweise“, erklärte ein Flixbus-Sprecher. Aus dem Ausreisegeschehen lasse sich „per se keine Hinweise auf missbräuchlichen Leistungsbezug ableiten“, heißt es in dem Bericht des Bundesinnenministeriums.

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Wie gehen die Behörden gegen Missbrauch vor?

Hartz-IV-Leistungen könne nur erhalten, wer sich im so genannten „zeit- und ortsnahen Bereich“ des zuständigen Jobcenters aufhalte und postalisch erreichbar sei, betonte die Sprecherin des Arbeitsministeriums. Eine dauerhafte Abwesenheit einer leistungsbeziehenden Person würde nicht unbemerkt bleiben. Dem Jobcenter falle auf, wenn jemand an Integrationsmaßnahmen oder Sprachkursen nicht teilnehme, nicht zu Terminen erscheine oder Briefe nicht zustellbar seien. „In diesen Fällen werden die Jobcenter regelmäßig die Leistungsgewährung einstellen“, sagte die Ministeriumssprecherin.

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Wie sind die Äußerungen von Merz aufgenommen worden?

Mit viel Kritik - auch aus den eigenen Reihen. „Merz hat die übliche Methode der Rechtspopulisten angewandt: Erst Grenzen überschreiten, dann zurückrudern“, sagte Christian Bäumler vom CDU-Sozialflügel. „Das Gerede von angeblichem ‚Sozialtourismus‘ spielt dem rechten Rand in die Karten“, sagte die Integrationsbeauftragte Alabali-Radovan unserer Redaktion. „Solche Worte sind Sprengstoff für unseren Zusammenhalt, gerade in Zeiten massiv steigender Preise für Energie oder Lebensmittel.“

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.