Washington. Der Ukraine-Krieg wird die 77. Generalversammlung der Vereinten Nationen dominieren. Doch auch die Corona-Pandemie spielt eine Rolle.

Auch Abstimmungen über Randaspekte haben bei den Vereinten Nationen hohe Symbolkraft. Vor Beginn der ganz im Zeichen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine stehenden 77. Generalversammlung der Vereinten Nationen (UNGA) ab Dienstag stand die Frage zur Abstimmung, ob Wolodymyr Selenskyj eine Extrawurst gebraten werden soll.

Gut 100 Länder, die überwältigenden Mehrheit, stimmten am Ende dafür, dem ukrainischen Präsidenten wegen des Kriegsgeschehens die persönliche Präsenz am East River in New York zu ersparen und die Ausnahme einer digitalen Video-Botschaft zuzubilligen.

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Rund 20 Staaten, darunter Brasilien, China, Iran und Südafrika, übten sich in Enthaltungen. Nur ausgewiesene Randständige wie Weißrussland, Kuba, Nordkorea, Eritrea, Nicaragua und Syrien stimmten analog zu Russland, das sich der Sonderbehandlung Selenskyjs verweigert; obwohl Staatspräsident Wladimir Putin zum wichtigsten Treffen der Staatengemeinschaft nicht anreist und als Ersatz seinen Außenminister Sergej Lawrow schickt.

Krieg in der Ukraine: UN-Generalsekretär nennt Friedensabkommen „naiv“

UN-Analysten beugten sich über das Abstimmungsergebnis und kamen zu dem vorläufigen Schluss, dass es Putin knapp sieben Monate nach Kriegsbeginn nicht wirklich gelungen sei, einen „stabilen Keil in die Weltgemeinschaft zu treiben”. Dass Indien, das zuletzt in Gestalt von Premierminister Narendra Modi unerwartete Kritik am russischen Krieg äußerte, für Selenskyjs Video-Ansprache (Mittwoch) votierte, könne vielleicht sogar als „vorsichtige Absatzbewegung” gewertet werden.

Nicht aber als Vorzeichen, dass die 77. „UNGA”, zu der sich über 140 Staats- und Regierungschefs angekündigt haben, substanzielle Fortschritte zur Beendigung des Krieges zeitigen wird. Die Vorstellung hatte UN-Generalsekretär Antonio Guterres bereits vorher begraben: „Es wäre naiv zu denken, dass wir nahe an der Möglichkeit eines Friedensabkommens sind.”

Putin soll sich vor nuklearen und chemischen Anschlägen hüten

Unmittelbar vor dem Auftakt des Gesprächs-Marathons hat US-Präsident Joe Biden, der gegen die Gepflogenheiten (Grund: seine Teilnahme an den Trauerfeiern für die englische Queen) erst am Mittwoch in New York ans Rednerpult treten wird, die jüngsten militärischen Misserfolge Russlands in der Ukraine zum Anlass genommen, Putin vor nuklearen Vergeltungsschlägen zu warnen.

„Tun Sie es nicht. Tun Sie es nicht. Tun Sie es nicht”, sagte Biden am Sonntagabend in einem Interview mit der US-Sendung „60 Minutes”. Er drohte im Fall der Zuwiderhandlung unspezifisch mit „folgenreichen Konsequenzen”. Russland würde weltweit „noch mehr zum Ausgestoßenen”. Bidens Sicht: Der Einsatz von Atomwaffen „würde das Gesicht des Krieges verändern, wie nichts anderes seit dem Zweiten Weltkrieg”.

Auswirkungen des Krieges auf die südliche Halbkugel: EU-Diplomat spricht „Ukraine-Fatigue“

Deutlich trat zuletzt zutage, dass die Fokussierung auf den russischen Krieg in der Ukraine vielen der 193 UN-Mitgliedern insbesondere auf der armen Südhalbkugel zunehmend suspekt ist. „Von Ukraine-Fatigue ist die Rede”, sagte ein EU-Diplomat. Gerade in Afrika befürchteten die Regierenden, dass die dramatischen Herausforderungen durch Hungersnöte, Klimawandel, Naturkatastrophen, Armut und soziale Ungleichheit aus dem Blickfeld geraten. US-Botschafterin Linda Thomas-Greenfield hat die „Bedenken” offiziell registriert und verspricht Gegenmaßnahmen.

So soll ein „Gipfel zur Ernährungssicherheit” mit der Europäischen Union und der Afrikanischen Union den Prioritäten der ärmsten Länder Rechnung tragen, die sehr darunter leiden, das Sanktionen des Westens etwa russische Exporte von Getreide und Düngemitteln beeinträchtigen.

Auch ein ministerielles Treffen zur Stärkung des Kampfes gegen Corona, Aids, Tuberkulose und Malaria ist geplant. Richard Gowan, UN-Experte der Denkfabrik „International Crisis Group”, hält es für unerlässlich, dass die Industrie-Nationen den Blick über den Konflikt in der Ukraine hinaus weiten; andernfalls werde der Rückhalt für konzertierte Maßnahmen gegen Moskau schwinden. Insbesondere die Hungerbekämpfung müsse intensiviert werden, so Gowan. Auch die militärischen Auseinandersetzungen in Libyen, in Mali und im Jemen dürften nicht ausgeblendet werden. Für humanitäre Maßnahmen fehlen den Vereinten Nationen nach eigenen Angaben in diesem Jahr 30 Milliarden Dollar.

Krieg in der Ukraine: Scholz will offenbar für Wiederaufbaukonferenz in Deutschland werben

Am Gipfel für „Global Food Security”, der am Dienstag von US-Außenminister Antony Blinken geleitet wird, nimmt auch Olaf Scholz teil, der voraussichtlich von Montagabend bis Mittwoch in New York sein wird. Es ist sein erster Auftritt als Bundeskanzler vor den Vereinten Nationen. Sein Schlüsselereignis, die Rede im Plenum, ist nach vorläufigem Terminkalender gegen ein Uhr deutscher Zeit am Mittwoch geplant.

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Aus Regierungs- und UN-Delegationskreisen verlautete, dass Scholz, der erst vor wenigen Tagen erneut mit Putin telefoniert hatte, den Angriff Russlands auf die Ukraine als glasklaren Bruch der UN-Charta brandmarken und anderslautende Narrative, wie sie aus Moskau gestreut werden, als Propaganda identifizieren will. Außerdem wolle der Kanzler den Klima-Gipfel im November in Ägypten promoten und für die Wiederaufbaukonferenz für die Ukraine Ende Oktober in Deutschland werben.

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Kanzler Scholz will seine „Handschrift“ in New York hinterlassen

Medial wird Scholz nach Informationen aus diplomatischen Kreisen seine Handschrift in einer renommierten Polit-Sendung des TV-Senders NBC und bei einem Redaktionsbesuch bei der New York Times hinterlassen. Anzeichen dafür, dass Olaf Scholz seine Weigerung aufgibt, der Ukraine auch Kampfpanzer vom Typ Leopard 2 zu liefern, gibt es bislang nicht. Die Bundesregierung wird ab Dienstag auch durch Außenministerin Annalena Baerbock in New York vertreten sein. Die Grünen-Politikerin kommt mit Linienflug nach Manhattan, Scholz nimmt die Regierungsmaschine.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.