Berlin. Explodierende Gaspreise, Hungerkrisen, wachsende Militäretats – und der Blick nach China: Der Ukraine-Krieg führt zu Erschütterungen.

Es ist nur ein paar Monate her, da sahen viele einen Silberstreif am Konjunkturhimmel. Die Corona-Pandemie neige sich dem Ende zu, die Menschen reisten wieder, die Wirtschaft fasse bald wieder Tritt. So oder ähnlich lauteten die Stoßseufzer zwischen Washington, Berlin und Tokio.

Heute, sechs Monate nach Beginn der Ukraine-Invasion, sind derlei Wünsche und Hoffnungen Makulatur. Der Krieg hat das Zeug, die Welt aus den Angeln zu heben. Nicht nur, dass die Gefahr einer militärischen Eskalation alles andere als gebannt ist. Die immer noch stockenden Getreide-Exporte aus der Ukraine sorgen in Afrika, Lateinamerika und Westasien bereits heute für Nahrungsmittel- und Hungerkrisen.

Michael Backfisch, Politik-Korrespondent
Michael Backfisch, Politik-Korrespondent © Reto Klar | Reto Klar

Szenarien sehen einen Einbruch der Wirtschaft um bis zu vier Prozent

In Europa macht die Verknappung der Gaslieferungen aus Russland Energie zur Mangelware. Auch in Deutschland schießen die Preise nach oben, eine Mega-Belastung für Verbraucher und Unternehmen. Betroffen sind nicht nur extrem von Gas abhängige Branchen wie Chemie, Glas oder Keramik.

Daran hängt ein Kranz von Zulieferfirmen, die ebenfalls in Schieflage geraten könnten. Würden diese nicht mehr produzieren, wären Entlassungen nicht auszuschließen. In der Finanzindustrie kursieren bereits Szenarien, die Deutschland vor einer schweren Rezession mit einem Einbruch des Bruttoinlandsprodukts von bis zu vier Prozent sehen.

Die Bundesregierung muss auch bei Autokraten in Katar oder Aserbaidschan anklopfen

Die Energielandschaft ist im Umbruch. Die Bundesregierung, die einst für das Jahrhundert-Projekt einer ökologischen Transformation angetreten ist, kann ihr Vorhaben zwar mittel- und langfristig weiterverfolgen. Aber um den Wegfall von Gas und Öl aus Russland zu kompensieren, müssen sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) kurzfristig um Ersatz auch für fossile Energien bemühen.

Auf der Suche nach neuen Energie-Partnern: Bundeskanzler Olaf Scholz (r.) und Kanadas Premierminister Justin Trudeau in Ontario.
Auf der Suche nach neuen Energie-Partnern: Bundeskanzler Olaf Scholz (r.) und Kanadas Premierminister Justin Trudeau in Ontario. © AFP | Cole Burston

Die Ampelkoalition kann sich dabei nicht den Luxus erlauben, besonders wählerisch zu sein. Als Geschäftspartner stehen nicht nur Öl- und Gaslieferanten aus demokratischen Ländern wie jetzt Kanada und zuvor Norwegen oder die Niederlande zur Debatte. Scholz & Co. müssen auch bei Autokraten wie dem Emir von Katar oder dem Präsidenten von Aserbaidschan, Ilham Aliyev, anklopfen. Das demokratische Reinheitsgebot wird da eher zur Nebensache.

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Putins neo-imperiale Ambitionen haben eine neue Wachsamkeit ausgelöst

Die Verteidigungspolitik steht ebenfalls vor gewaltigen Herausforderungen. Die Friedens-Dividende, die nach dem Fall der Mauer 1989 vielerorts zu einem drastischen Sparkurs bei Militärausgaben führte, ist passé. Die unverblümt formulierten neo-imperialen Ambitionen von Russlands Präsident Wladimir Putin haben eine neue Wachsamkeit ausgelöst.

Die Bundeswehr wappnet sich – mit einem Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro und einem stetig wachsenden Verteidigungsetat. Dabei geht es nicht nur ums Geld. Auch die Beschaffung von Waffen muss effizienter erfolgen und noch besser mit den Partnern in EU und Nato abgestimmt werden. Eine europäische Verteidigungspolitik aus einem Guss wird zur absoluten Notwendigkeit.

China sieht den Angriff als mögliche Blaupause für eine „Wiedervereinigung“ mit Taiwan

Auch China spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Die Regierung in Peking schaut genau hin, wie der Westen im Ukraine-Krieg reagiert. Staatschef Xi Jinping sieht den russischen Angriff als mögliche Blaupause für eine „Wiedervereinigung“ mit Taiwan.

Der Fall der Volksrepublik ist für Europa aber viel komplexer als die Causa Russland. Zehn Prozent des gesamten Handelsvolumens der deutschen Wirtschaft läuft mit China. Das Land ist Wettbewerber, Systemrivale, aber auch Partner. Was der Ukraine-Krieg für das Verhältnis zu Peking bedeutet, lässt sich heute noch nicht ermessen.

Dieser Text erschien zuerst auf morgenpost.de