Lampedusa. Die italienische Insel im südlichen Mittelmeer ist mit Geflüchteten überfüllt. „Wir sind dagegen machtlos“, sagt das Innenministerium.

Bis vor zwei Jahrzehnten war Lampedusa in Italien nur als Geheimtipp für sonnenhungrige Urlauber bekannt. Auf der 20 Quadratkilometer großen Insel ganz im Süden Europas tummelten sich im Sommer wohlhabende Touristen, die das azurblaue Meer, afrikanische Sonne und die Gastfreundschaft der 5000 Einwohner des Eilands genossen.

Der Tourismus ist die einzige Einnahmequelle der trockenen Insel, die ab 1872 für ein paar Jahre als Strafkolonie genutzt worden war. Das Meer ist seit jeher Teil des Lebens der Einwohner von Lampedusa. Es bringt Fische und damit auch Lebensunterhalt und zieht zahlungskräftige Touristen an, die das karibikartige Flair und die Strände der Insel lieben.

Doch Lampedusa muss schon seit Jahren um seinen guten Ruf als Tourismus-Ziel kämpfen. Denn wegen der Masseneinwanderung afrikanischer Geflüchteter, für die die Insel zum Eingangstor nach Europa wurde, gilt Lampedusa mittlerweile kaum mehr als Ferienparadies. Vielmehr ist es als Migranten-Ghetto im Mittelmeer bekannt.

Lampedusa: Die Zahl der Geflüchteten hat sich im Vergleich zu 2020 verdreifacht

Rund 45.000 Geflüchtete sind seit Anfang 2022 bis heute auf Lampedusa eingetroffen, das sind 12.000 mehr als im Vorjahreszeitraum 2021. Die Zahl der Migranten, die nach gefährlichen Überfahrten die Insel erreichen, hat sich gegenüber dem Vergleichszeitraum 2020 sogar verdreifacht.

Mehr als 1000 Menschen versuchen derzeit täglich, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Viele haben schon eine lange Flucht durch die Sahara hinter sich. Die Mehrheit der Geflüchteten stammt aus Tunesien, viele andere aus Krisenländern wie Libyen, Somalia und Eritrea.

„Lampedusa ist nur die Spitze des Eisbergs“, heißt es im Innenministerium in Rom

„Der Druck in Tunesien und Libyen ist enorm. Große Menschenmengen aus dem afrikanischen Kontinent drängen nach Europa und wagen jeden nur möglichen Weg, um bessere Lebensbedingungen zu finden. Wir sind dagegen machtlos. Lampedusa ist nur die Spitze des Eisbergs, einen massiven Flüchtlingsansturm gibt es auch auf Sizilien, Sardinien und in ganz Süditalien“, analysiert ein Migrationsexperte des Innenministeriums in Rom.

In den letzten Monaten gibt es immer mehr kleinere Boote, die Gruppen von Tunesiern nach Lampedusa bringen. Die Tunesier gelten als Wirtschaftsmigranten. Sie haben in Italien keinerlei Hoffnung auf einen Flüchtlingsstatus. Die meisten von ihnen tauchen nach der Landung in Italien unter, versuchen Angehörige in Norditalien oder Frankreich zu erreichen oder schlagen sich als Illegale ohne Aufenthaltsrecht durch.

Das Flüchtlingslager ist für 350 Menschen angelegt - tatsächlich sind dort 1000

Die „Clandestini“, die Illegalen, wie in Italien die Immigranten ohne Aufenthaltsgenehmigung genannt werden, kommen nach ihrer Ankunft auf Lampedusa in das Auffanglager der Insel. Der „Hotspot“ befindet sich hinter dem Hauptdorf in einer schmalen Schlucht, umgeben von meterhohem Stacheldraht.

Keiner darf ohne Genehmigung hinein und erst recht nicht hinaus. 350 Migranten können theoretisch in dem Flüchtlingslager untergebracht werden, zurzeit befinden sich über 1000 Menschen dort. Die Neuankömmlinge werden registriert und auf das Coronavirus getestet.

Überfüllte Mülleimer und bergeweise Abfall türmen sich in den Gängen

Die Zustände im „Hotspot“ sind dramatisch. Auf alten Schaumstoffmatratzen liegen Frauen mit Kindern. Überfüllte Mülleimer und bergeweise Abfall türmen sich bei Temperaturen um die 40 Grad in den Gängen. „Die Bilder könnten aus Libyen stammen. Aber nein, das ist Italien“, kommentiert Lampedusas Ex-Bürgermeisterin Giusy Nicolini, die sich seit Jahren für die Rechte der Migranten einsetzt.

Flavio Di Giacomo vom Mittelmeer-Büro der UN-Organisation für Migration (IOM) spricht von einer „Schande auf Lampedusa“. Nicht die Zahl der ankommenden Menschen sei das Problem, meint er, sondern ein schlechtes System der Verteilung. Im Durchschnitt bleiben die Menschen fünf bis sechs Tage auf Lampedusa. Danach werden sie auf andere Lager in ganz Italien aufgeteilt. Einige von ihnen warten dort auf die Aufenthaltsgenehmigung, weil sie Hoffnung auf Asyl haben, andere werden abgeschoben.

Insbesondere Deutschland, Frankreich und skandinavische Länder gelten als attraktiv

Viele befürchten die langwierige italienische Bürokratie und tauchen unter – vor allem, wenn es sich um unbegleitete Minderjährige handelt. Die meisten wollen auch weiter in andere EU-Staaten. Insbesondere Deutschland, Frankreich und skandinavische Länder gelten als attraktiv. Unzählige Afrikaner verschwinden aus den Flüchtlingslagern und werden als Schwarzarbeiter in der süditalienischen Landwirtschaft eingesetzt.

Die starke Migrationsbewegung ist in Italien zum großen Wahlkampf-Thema geworden. Am 25. September wird ein neues Parlament gewählt. Mit deftigen Parolen gegen die illegale Einwanderung hoffen die Rechtsparteien bei der Wählerschaft zu punkten.

Die ultrarechte Giorgia Meloni fordert eine Schiffsblockade vor Libyen und Tunesien

Der Chef der rechten Lega, Matteo Salvini, will im Fall eines Wahlsieges der rechtspopulistischen Parteien wieder den Innenminister-Posten zurückerobern, den er bereits ein Jahr lang zwischen 2018 und 2019 bekleidet hatte. Damals hatte er mit seiner „Politik der geschlossenen Häfen“ und seinem Kampf gegen Rettungsschiffe international für einen Eklat gesorgt. Aber die Zahl der Geflüchteten wurde so auf ein Minimum reduziert.

Salvinis Koalitionspartnerin Giorgia Meloni, Chefin der Ultrarechts-Partei „Fratelli d’Italia“, begnügt sich nicht mit geschlossenen Häfen. Sie fordert eine Schiffsblockade vor der libyschen und tunesischen Küste, um die Abfahrt der Migranten zu verhindern und Schleppern das Geschäft zu ruinieren. In den Umfragen liegt Meloni derzeit auf Platz eins.

Dieser Text erschien zuerst auf morgenpost.de.