Twer. Nicht alle Russen unterstützen Putins „Spezialoperation“ in der Ukraine. Doch man muss genau hinsehen. Auf die T-Shirts zum Beispiel.

Es ist ein Familienbesuch auf dem Land. „Wie kommt ihr denn in Deutschland jetzt klar?“, fragt Onkel Witja gleich zur Begrüßung. „Bei der Inflation?“ Und wie wollt Ihr ohne unser Gas über den Winter kommen?“ Aber Sergei, sein Schwiegersohn, wechselt das Thema: „Stimmt es eigentlich, dass die Deutschen Kölnisch Wasser trinken?“ Man lacht.

Feierabend an der Wolga. Sergeis Eigenheim steht in einem Vorort von Twer, ein zweistöckiger Neubau, vor dem Schwitzbad raucht der Grill. Hier ist Russland so, wie es überall gern wäre.

Ukraine – dieses Wort wird nicht ausgesprochen

Die Häuser sind gleichzeitig Datscha und Wohnung, von der man täglich in die Stadt zur Arbeit fahren kann. Blumen-, Erdbeer- und Kartoffelbeete säumen den Rasen. Sergei hat auch die Einbauküche im Haus selbst gezimmert, neben dem blank geschrubbten Spülbecken steht eine italienische Cappuccino-Maschine.

Aber die Idylle ist angeschlagen. Sergei hatte gewarnt: Sein Schwiegervater sei seit dem 24. Februar sehr patriotisch geworden. Aber Witja und alle anderen vermeiden das Wort Ukraine. Sie ist trotzdem in den Köpfen. Und tut weh.

Die Leute im Ort erzählten von russischen Gefangenen, sagt Ira, die Hausfrau. Einem hätten die Ukrainer die Augen ausgestochen, einen anderen kastriert – aber diese Schauermärchen verbreitet die TV-Propaganda schon seit Monaten.

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In der Ukraine kämpfen die zwei Brüder als Vertragssoldaten

Zwei Brüder aus der Stadt kämpften als Vertragssoldaten in der Ukraine. Ihre Mutter, sagt Ira, rede seitdem nicht mehr mit der Familie: „Weil sie glaubt, sie hätten ihre Jungs aus Geldgier dazu getrieben, sich freiwillig zu melden.“ Der Sohn einer anderen Bekannten wäre vergangenen Monat gefallen: „Sie hat seitdem kein Gesicht mehr.“

Am Tisch kreisen Trinksprüche, es wird auf Witja angestoßen, der 73 geworden ist. Er trägt ein grünblaues T-Shirt mit angelsächsischer Aufschrift: „No rules, no order!“ Witja weiß nicht, was das auf Russisch heißt.

T-Shirts mit englischem Text sind diesen Sommer in Twer eine seltsame Mode geworden – wie in Moskau oder in Tscheboksary, gut 700 Kilometer die Wolga abwärts. Oder in den anderen russischen Groß- und Kleinstädten, wo 110 von 145 Millionen Russen leben.

Das „Z“ ist nur auf offiziellen Plakaten und Flaggen zu sehen

Über den Hauptstraßen von Twer, auch an den Türen der Nahverkehrsbusse, hängen Plakate der Obrigkeit: mit einem großen Z, dem Wahrzeichen des russischen Feldzuges in der Ukraine. Aufschrift: „Die Region Twer ist für Russland und für den Sieg.“

Aber T-Shirts mit Z-Zeichen sind in den Städten an der Wolga ebenso selten zu sehen wie Pkws mit Z-Aufklebern. Über einem Männerbauch auf dem Bahnhofsplatz spannt sich weißer Stoff mit der Aufschrift „Antihero.“ Jemand reklamiert „Revolution“, jemand „New York“.

Der Kreml hat Amerika und Großbritannien zu Russlands Hauptfeinden erklärt. In der Staatsduma liegt ein Gesetzentwurf, der Reklameschilder mit lateinischen Buchstaben verbieten soll, die Parlamentarier wollen vor allem Anglizismen ausmerzen.

Unter der offenen Jacke trägt die Frau eine Bluse mit Peace-Zeichen

Aber umso mehr wimmeln Baseballmützen mit Nike oder Nasa, auch angelsächsische Aufrufe und Sinnsprüche tauchen auf: „Nicht reden, handeln!“ „Kenne die Wahrheit, und dir wird nie langweilig!“ Auf dem knallroten Pulli einer dicken Frau prangt ein „Eat your Grandma!“ Eher Dadaismus, aber wer sich gegen den Westen stellt, der kleidet sich anders.

Und kurz danach überquert eine ältere Frau den zentralen Lenin-Prospekt. Sie trägt eine schwarze Bluse unter ihrer offenen Jacke. Darauf glänzt ein großes, silbernes Peace-Zeichen.

Mehrere Medien meldeten kürzlich die Ergebnisse einer nicht-öffentlichen Umfrage des staatlichen Meinungsforschungsinstituts WZIOM für den Kreml: Im Juni waren 57 Prozent der Befragten dafür, die Militäroperation fortzusetzen, 30 Prozent dagegen. Aber dafür waren nur 19 Prozent der Russen zwischen 18 und 24, nur 41 Prozent der Russen zwischen 25 und 34 Jahren: Die Mehrheit jener Altersklasse, die an der Front zu kämpfen hätte, ist gegen Putins Feldzug.

Ukraine: An ein schnelles, gutes Ende glaubt hier keiner der Russen

Sergei, der Reifenhändler, trägt ein kariertes Hemd und sagt, er spüre noch nichts von Krise, die Autos bräuchten ja immer „Gummi“. Andere Familienväter, die mit ihrer zweiten Bierdose am Grill stehen, reden vom Autourlaub am Schwarzen Meer.

Kriegsspezialoperation? Die Männer glauben der Staatspropaganda, dass es langsam aber sicher vorangeht, dass es Siege und Gefangene gibt. Aber an ein nahes und wirklich gutes Ende glauben sie nicht. Und einer redet sichtlich erleichtert von der Gastritis, wegen der sein Sohn untauglich gemustert wurde.

Die meisten Russen in der Provinz, die merken, dass sie einen westlichen Ausländer vor sich haben, freuen sich aufrichtig.

Mittelstands-Russland scheint ins Grübeln geraten zu sein

Auch der Fernfahrer Michail aus Jaroslawl, der am Kaffeeautomaten einer Tankstelle auf der Wolga-Trasse zwischen Nischni Nowgorod und Kasan Rast macht. „Die Politiker wollen ihren Ehrgeiz befrieden“, erklärt er. Moskaus neuen Weltkonflikt mit dem kollektiven Westen auf sehr russische Weise. „Deshalb müssen wir kleinen Leute alle leiden.“ Auf die Antwort, in der Ukraine müssten Leute deshalb sogar sterben, schweigt er. Aber sein Schweigen wirkt mehr nachdenklich als böse.

Mittelstands-Russland scheint ins Grübeln geraten zu sein. Zwei Jahrzehnte funktionierte Putins Sozialvertrag: „Ihr haltet euch raus aus unserer Politik, wir lassen euch in Ruhe eure Häuser und Datschen bauen.“

Jetzt wird diese Ruhe von den Einschlägen russischer Raketen in der Ukraine gestört. Und als die anderen Gäste fort sind, sagt Sergei: „Das ist nicht unser Krieg.“ Auch das ein Zitat, für das man jetzt hinter Gittern landen kann.

„Wenn wir in diesem Land leben wollen, müssen wir uns an seine Regeln halten“

Sergei hat längst aufgehört, TV-Nachrichten zu sehen. In Russland herrsche Autokratie, es gäbe es keine Freiheit des Wortes, sagt er. „Aber wenn wir in diesem Land leben wollen, müssen wir uns an seine Regeln halten“. Es klingt bedrückt.

Am nächsten Abend drängen sich hundert junge Leute um den „Mister Moose“, eine Szenekneipe im Stadtzentrum. Folk-Musik lärmt sehr angelsächsisch.

Max, ein Großneffe von Witja, fragt ganz direkt: „Für wen bist du? Für Russland oder für die Ukraine?“ „Für die Ukraine“, – beim Versuch das zu erklären, winkt Max ab. „Alles klar!“ Er streckt seine Hand aus. Und sein Lächeln ist so breit, dass er damit zumindest ein Bußgeldverfahren riskiert.