Brüssel. Affront für die neue Bundesregierung: Während Deutschland aus der Kernenergie aussteigt, hilft die EU-Kommission bei ihrer Renaissance.

Es ist eine Zäsur für die deutsche Energiepolitik: Die Kernkraftwerke Brokdorf und Grohnde werden zum Jahresende abgeschaltet – jene Reaktoren an Elbe und Weser, gegen deren Bau Hunderttausende Atomkraftgegner vor vier Jahrzehnten besonders massiv und teils gewaltsam protestiert hatten.

Doch für die Atomkritiker schmeckt der späte Triumph bitter: Denn während Deutschland seinen Atomausstieg vorantreibt und nächstes Jahr die letzten drei AKW vom Netz nimmt, erlebt die Kernkraftnutzung anderswo in Europa eine Renaissance.

Die EU will die Atomkraft als „grüne Energie“ einstufen

Und eine politische Aufwertung: Die EU steht kurz davor, Atomkraft erstmals offiziell als nachhaltige, klimafreundliche Energie zu adeln. Noch vor Weihnachten, wenn in Brokdorf und Grohnde langsam die Lichter ausgehen, dürfte sich die EU-Kommission unter der deutschen Präsidentin Ursula von der Leyen damit vom Kurs Deutschlands abwenden.

„Es gibt ein neues Interesse an Atomenergie als Teil der Energiezukunft“, sagt von der Leyens Energiekommissarin Kadri Simson. Sie reduziere die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen und schaffe als größte klimaschonende Quelle für die Grundlast der Stromversorgung Stabilität und Sicherheit.

Frankreich erzeugt nur halb so viel CO2 wie Deutschland

EU-Industriekommissar Thierry Breton erklärt: „Es wird keinen Green Deal ohne Kernenergie geben.“ So sieht man es in vielen Teilen Europas: Rund 110 Atomkraftwerke in 13 EU-Staaten sind aktuell in Betrieb, sie liefern ein Viertel des Stroms in der Union.

Gut die Hälfte der Meiler steht in Frankreich, das seine Elektrizität zu 70 Prozent nuklear produziert und deshalb pro Kopf nur etwa halb so viel CO2 erzeugt wie Deutschland.

Das Atomkraftwerk im niedersächsischen Grohnde wird Ende des Jahres abgeschaltet.
Das Atomkraftwerk im niedersächsischen Grohnde wird Ende des Jahres abgeschaltet. © Getty Images | Sean Gallup

Viele Atommeiler in der EU sind veraltet

Aber auch Länder wie Tschechien, Schweden, Finnland, Spanien, Slowakei, Bulgarien und Ungarn setzen stark auf Atomstrom. Polen will für den Ausstieg aus der klimaschädlichen Kohleverstromung erstmals zwei oder drei AKW mit einer Gesamtkapazität von neun Gigawatt bauen. In der Slowakei ist ebenfalls ein neuer Meiler geplant, in Finnland und Frankreich sind weitere bereits im Bau.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zeigt sich als Vorkämpfer, lobt im Präsidentschaftswahlkampf die Kernenergie als „souveräne Lösung“, um energieunabhängig zu bleiben und zugleich klimaneutral zu werden. Es gibt nur ein Problem: Viele Atomkraftwerke in der EU stammen aus den 70er- und 80er-Jahren und kommen ans Ende ihrer Laufzeit.

Bis zu 50 Milliarden Euro müssten investiert werden

Energiekommissarin Simson sagt: „Nach unserer Analyse müssen ohne sofortige Investitionen etwa 90 Prozent der bestehenden Reaktoren um 2030 heruntergefahren werden – ausgerechnet dann, wenn sie aus Klimaschutzgründen am dringendsten gebraucht würden.“

Um die Laufzeiten zu verlängern, seien Investitionen von 45 bis 50 Milliarden Euro nötig, erklärt Simson. Und um 2050 die gleiche Kapazität zur Erzeugung von Atomstrom zu haben wie heute, werde mit Investitionen von rund 400 Milliarden Euro kalkuliert.

Das sind die Laufzeiten der letzten Atomkraftwerke in Deutschland. Ende 2022 ist Schluss.
Das sind die Laufzeiten der letzten Atomkraftwerke in Deutschland. Ende 2022 ist Schluss. © funkegrafik nrw | Marc Büttner

Das EU-Siegel soll Investoren locken

Um den enormen Kapitalbedarf für neue Atomprojekte zu finanzieren, drängen Frankreich und ein Dutzend anderer EU-Staaten massiv auf Hilfe der EU. Die Kommission soll Atomkraft in die Gruppe der nachhaltigen Technologien aufnehmen und damit als ökologische Geldanlage einstufen – dann könnte das Kapital von Investoren weltweit, die zunehmend gezielt nach „grünen“ Finanzprodukten suchen, leichter in Atomprojekte gelenkt werden.

Der wissenschaftliche Dienst der Kommission unterstützt den Plan: Kernkraft sei sicher und geeignet für das grüne Label. Von der Leyen signalisiert, dass sie der Empfehlung folgen wird. Diese oder nächste Woche soll der Plan nach Informationen unserer Redaktion von der Kommission beschlossen werden – als „delegierter Rechtsakt“, den die Mitgliedstaaten praktisch nicht mehr ändern können.

Das Problem der Atommüllentsorgung ist ungelöst

Das Bundesamt für nukleare Entsorgung schlägt Alarm: „Die angekündigte Entscheidung aus Brüssel zeigt leider, dass die Risiken der Atomenergie noch immer systematisch unterschätzt werden“, sagte Präsident Wolfram König unserer Redaktion.

Es gebe noch immer keine Lösung für die Entsorgung hoch radioaktiver Abfälle. Die Gefährdung der Lebensgrundlagen durch Unfälle habe sich bereits mehrfach „als reale Bedrohung erwiesen, und neue Szenarien des Missbrauchs der radioaktiven Stoffe sind hinzugekommen“.

Macron hat eine Mehrheit der EU-Staaten hinter sich

Die Bundesregierung würde den Affront aus Brüssel, der den Ausstieg indirekt infrage stellt, gern verhindern – aber sie will nicht gleich im Riesenstreit mit Frankreich starten. Deshalb spart der Koalitionsvertrag das Problem aus, auf allen Ebenen wird nach einem Kompromiss gesucht.

Als Zugeständnis an Berlin könnten besondere Sicherheitsauflagen für die Nuklearförderung festgelegt werden, heißt es in Brüssel. Viel Spielraum gebe es aber nicht: Das Ökosiegel für Atomstrom sei nicht mehr zu stoppen. Macron hat eine breite Mehrheit der EU-Staaten hinter sich, auch weil im Paket neue Gaskraftwerke für eine Übergangszeit ebenfalls den Klimastempel erhalten sollen. Auf Deutschlands Seite stehen nur vier kleinere Staaten wie Österreich und Luxemburg. Lesen Sie mehr:Mit Macron in Paris: So war Scholz’ erste Auslandsreise

Mini-Reaktoren – sind sie die „Neuerfindung der Atomkraft“?

Macron wirbt bereits für den Bau von Mini-Reaktoranlagen als „Neuerfindung“ der Atomkraft – mit kürzerer Bauzeit, mehr Sicherheit, weniger Atommüll. Ob die Technologie hält, was der Präsident verspricht, weiß man erst in einigen Jahren, warnen Experten.

Die EU-Kommission unterstützt aber die Entwicklung der Mini-Reaktoren. „Das globale Interesse an dieser Technologie steigt“, lobt Kommissarin Simson. „Wachstum, Innovation und das Null-Emissions-Ziel bringen Atomenergie zurück ins Zentrum der Diskussion.“