Berlin. Der Mordfall Lübcke zeigt, wie weit der Hass in der Gesellschaft schon ist. Die Zeit des Wegschauens muss vorbei sein. Ein Kommentar.

Ist der Staat auf dem rechten Auge blind? Spätestens seit den Morden des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds an neun Migranten und einer Polizistin lastet dieser Verdacht völlig zu Recht auf dem deutschen Sicherheitsapparat. Der Mord an dem CDU-Politiker Walter Lübcke hat das Thema brutal in die Aktualität zurückgeholt.

Sollte der tatverdächtige Stephan E. tatsächlich überführt werden, wäre er der erste Rechtsterrorist in der Bundesrepublik, der einen Politiker gezielt ermordet hat.

Der Schock geht tief und es ist gut, dass die politischen Spitzen des Staates am Wochenende unmissverständliche Worte gefunden haben. Der Bundespräsident, die Kanzlerin und auch der Bundesinnenminister – sie alle beschreiben völlig zu Recht eine brandgefährliche Entwicklung. Mit Worten ist es dabei aber nicht getan. Es muss schnell gehandelt werden.

Hilflose Appelle aus der Politik

Es ist schlicht ein Skandal, dass die Liste der in Deutschland mit Haftbefehl gesuchten Neonazis immer länger wird. Es ist ein Skandal, dass Stephan E. viel zu früh vom Radar des Verfassungsschutzes verschwinden konnte, obwohl er noch 2018 „Tote“ ankündigte, sollte die Regierung nicht zurücktreten. Und es ist ein Skandal, wie kinderleicht Hass und Morddrohungen ohne erkennbare Konsequenzen veröffentlicht werden können. Was in den sogenannten sozialen Netzwerken an asozialen, aggressiven Inhalten unterwegs ist, zersetzt eine friedliche Gesellschaft.

Geradezu hilflos klingen dabei die Appelle aus der Politik an die verantwortlichen Betreiber. Aber nur mit Forderungen ist dieser Kampf nicht zu gewinnen. Der Staat muss konsequent mit all seinen Mitteln gegen diesen Hass vorgehen – sonst riskiert er Kontrollverlust mit tödlichen Folgen.

Merkel- Staat muss Rechtsextremismus in Anfängen bekämpfen

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    Ja, historische Vergleiche hinken meist. Dennoch drängen sich Erinnerungen an die RAF-Terror-Jahre auf. Mit Schleier-Fahndung, gesperrten Autobahnen, Sonderermittlern und maximalem Druck wählten die Sicherheitsbehörden damals das ganz große Besteck. Jedes Kind kannte von tausendfach veröffentlichten Fahndungsplakaten die Gesichter der gesuchten Terroristen.

    Auch beim Kampf gegen Rechtsex­tremismus wird nur große Entschlossenheit zum Ziel führen. Sie ist gerechtfertigt, schließlich ist die Zahl der Toten durch rechte Gewalttäter erschreckend hoch. Viel höher als die Zahl der Opfer durch RAF-Terroristen oder radikale Islamisten. Bis 2015 zählte das Bundeskriminalamt – nach strengen Maßstäben – 75 Opfer. Unabhängige Rechercheure kommen allein seit 1990 auf fast 170 Tote.

    Kanzlerin stand NSU-Opfern bei

    Wer sich mit rechtem Terror in Deutschland befasst hat, weiß: Es gibt durchaus eine tödliche Gewaltserie über die vergangenen Jahrzehnte – vom Oktoberfest-Attentat über den Solinger Brandanschlag bis hin zu gezielten Morden an Ausländern.

    Es war die Kanzlerin persönlich, die den Hinterbliebenen der NSU-Opfer in einer bewegenden Trauerfeier beistand und selbstkritisch formulierte: „Wir verdrängen, was mitten unter uns geschieht; vielleicht, weil wir zu beschäftigt sind mit anderem; vielleicht auch, weil wir uns ohnmächtig fühlen gegenüber dem, was um uns geschieht.“ Das war vor sieben Jahren im Februar 2012. Ganz offenbar ist seit dieser Zeit zu wenig geschehen.

    Auch wenn der Staat jetzt Entschlossenheit zeigt, wird er es nicht alleine richten können. Neben hellwachen Sicherheitsbehörden mit ausreichend Personal braucht es natürlich eine wehrhafte Gesellschaft und viel Zivilcourage. Vor allem braucht es Mut von jedem Einzelnen, sich im Alltag Antisemitismus, Fremdenhass und Unmenschlichkeit entgegenzustellen. Die Zeit des Wegschauens ist endgültig vorbei.