Kiew. In der Ukraine ist am Sonntag ein neuer Präsident gewählt worden. Polit-Neuling Wolodymyr Selenskyj gewann vor Amtsinhaber Poroschenko.

Dmitro wollte für Poroschenko stimmen. „Seit Wochen überlege ich. Ich mag beide Kandidaten nicht. Poroschenko bedeutet für mich Vergangenheit, Korruption und Bürokratie. Selenskyj aber Risiko und die minimale Hoffnung, dass sich doch etwas ändert.“

Der 43-jährige Bauunternehmer stand im Wahllokal 382 im Kiewer Suchominski-College und lächelte etwas schräg. „Ich habe mir schon überlegt, ob ich in der Wahlkabine eine Münze werfe.“ Und vielen anderen Ukrainern gehe es genauso.

Am Sonntag fand in der Ukraine die Stichwahl zwischen dem amtierenden Präsidenten Petro Poroschenko und dem TV-Komiker Wladimir Selenskyj statt. Nach den am frühen Montagmorgen von der Wahlkommission vorläufigen Ergebnissen kam der designierte neue Präsident bei der Stichwahl auf rund 73 Prozent, Amtsinhaber Petro Poroschenko dagegen nur auf knapp 25 Prozent der Stimmen.

Wolodymyr Selenskyj wird der neue Präsident

Angesichts dieses Vorsprungs gilt es als so gut wie sicher, dass auch die reale Stimmenauszählung mit einer Mehrheit für Selenskyj endet. „Das ist kein Fake, keine Montage, das sind 73 Prozent“, freute sich Wahlsieger Selenskyj vor einigen Dutzend Aktivisten und mehr als 500 Journalisten im Kiewer Geschäftszentrum Parkowi bei der Bekanntgabe der ersten Prognose pünktlich zur Schließung der Wahllokale um 20 Uhr Ortszeit.

Ein Knöllchen für den Polit-Neuling: Wolodymyr Selenskyj hielt seinen Stimmzetteln in die Kameras. Das ist verboten.
Ein Knöllchen für den Polit-Neuling: Wolodymyr Selenskyj hielt seinen Stimmzetteln in die Kameras. Das ist verboten. © Reuters | Handout

Laut einer Wahlbefragung holte Selenskyj in den westlichen Regionen der Ukraine 57 Prozent, in der Zentralukraine 73 Prozent, im Süden 85,4 Prozent, im Osten 87,7 Prozent. „Wir haben das zusammen geschafft. Jetzt wird es keinen Pathos geben“, sagte Selenskyj. Danach bedankte er sich bei seiner Familie, bei den Wählern, seiner Mannschaft, auch bei den Journalisten und seinen ehemaligen Komikerkollegen der Produktionsgesellschaft „Kwartal 95“. „Ihr könnt es jetzt in ,Kwartal 73’ umtaufen“, scherzte er in Anspielung auf das Ergebnis der Umfrage.

Das Wahllokal am linken Dnepr-Ufer ist von grauen Plattenbauten umstellt. Aber der Bezirk mit seinem breiten Badestrand gilt als gehobene Wohnlage, hier gehen auch Außenminister Pawlo Klimkin und der Parlamentarier Mustafa Dschemiljew, der Führer der Krimtataren, wählen. Hier leben viele Beamte, viele Intelligenzler, die Mehrheit von ihnen stimmte für Poroschenko.

Selenskyj hatte die patriotisch gestimmte Intelligenz erbost

Petro Poroschenko (l), Präsident der Ukraine, und sein Herausforderer Wolodymyr Selenskyj bei ihrer Debatte am Freitag im Olympiastadion von Kiew.
Petro Poroschenko (l), Präsident der Ukraine, und sein Herausforderer Wolodymyr Selenskyj bei ihrer Debatte am Freitag im Olympiastadion von Kiew. © dpa | Vadim Ghirda

Aber nach den letzten Meinungsumfragen war Selenskyj als klarer Favorit in die Stichwahl gegangen, auch sie sagten ihm 73 Prozent voraus. Nach der Stadiondebatte am Freitagabend gab es vor der Wahl in den sozialen Medien noch einmal heftigen Gegenwind. Selenskyj hatte dabei die prorussischen Rebellen im Donbas statt als „Terroristen“ als „Aufständische“ bezeichnet, was die patriotisch gestimmten Intelligenz erboste.

„Poroschenko hat seine Wählerschaft wohl vollständig mobilisiert“, sagte der Politologe Ihor Rejterowitsch unserer Redaktion. „Aber schon bei der Debatte zwischen den Kandidaten hat sich abgezeichnet, dass Selenskyj seinen Vorsprung aus dem Umfragen nicht mehr verlieren wird.“

Verlierer Petro Poroschenko gratulierte Selenskyj

Verlierer Poroschenko gratulierte Selenskyj. „Ich nehme die Mehrheitsentscheidung der Ukrainer an. Ich werde mein Büro verlassen, aber nicht die Politik.“ Der neue Präsident bekomme es mit einer sehr starken Opposition zu tun. „Wir haben den Kampf heute nicht gewonnen, aber dass heißt bestimmt nicht, dass wir den Krieg verloren haben.“

Wahlsieger Selenskyj aber wandte sich auch an die östlichen Nachbarn seines Landes: „An alle Länder der ehemaligen Sowjetunion. Seht auf uns! Alles ist möglich!“ Dmitro aber erzählte, am Samstagabend seien zwei seiner besten Freunde zu ihm gekommen. „Sie haben mich bestürmt: ,Wenn du unser Freund bist, dann wähle Poroschenko’. Am Ende habe ich ihnen mein Wort gegeben.“

Hintergrund: Stunde des Gaukler – Komiker könnte Ukraine-Wahl gewinnen

Aber ihn entsetzt Selenskyjs Wahlerfolg nicht. Dessen politisches Lager sei noch schwach. Wenn nötig, könnten die aktiven Bürger ihn leichter aus dem Amt jagen als Poroschenko. „Dessen Sieg hätte seine Macht nur noch betoniert.“

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat Wolodymyr Selenskyj zu seinem Sieg bei der Stichwahl um das ukrainische Präsidentenamt gratuliert. Nach einer Mitteilung des Bundespresseamtes vom Montag wünschte sie dem 41-Jährigen für die vor ihm liegenden Aufgaben viel Glück und Erfolg. „Die Stabilisierung der Ukraine sowie eine friedliche Konfliktlösung liegen mir ebenso am Herzen wie die Durchführung zentraler Reformen der Justiz, der Dezentralisierung sowie der Korruptionsbekämpfung“, wurde die Kanzlerin zitiert.

Auch Außenminister Heiko Maas äußerte sich zur Wahl. Er sah den Ausgang als „ein Zeichen für die lebendige und starke Demokratie“ in dem Land. Maas dankte dem unterlegenen Petro Poroschenko dafür, „dass er noch gestern den verfassungsmäßigen friedlichen Wechsel eingeleitet hat“.

(Stefan Scholl)