Rom/Berlin. Bei der Antimissbrauchkonferenz ist der päpstliche Paukenschlag ausgeblieben. Eine Mehrheit der Deutschen sieht die Wirkung kritisch.

Unmittelbar nach der Heiligen Messe, um 10.37 Uhr, tritt der Papst am Sonntagmorgen ans Mikrofon. Er hat einen Stapel loser weißer Zettel dabei, für seine mit Spannung erwartete Rede zum Abschluss der Antimissbrauchskonferenz im Vatikan.

Franziskus spricht eine halbe Stunde lang in der Sala Regia, einem Festsaal im Apostolischen Palast im Vatikan. Als der Papst um kurz nach elf Uhr den Raum durch eine Seitentür wieder verlässt, applaudieren die versammelten Kleriker. Außerhalb des Vatikans dagegen ist die Enttäuschung gewaltig. Franziskus hat weder eine Entlassungswelle für kirchliche Täter angekündigt, noch die kirchlichen Machtstrukturen infrage gestellt. Der päpstliche Paukenschlag ist ausgeblieben.

Eine repräsentative Umfrage, die unsere Redaktion beauftragte, spiegelt dies wider. Demnach glauben etwa 70 Prozent der Bundesbürger, dass die Antimissbrauchskonferenz im Vatikan und die darauf folgenden Initiativen keinen entscheidenden Beitrag gegen Missbrauch in der katholischen Kirche leisten werden. Nur 17 Prozent sahen die Konferenz in einem positiven Licht.

Was hat der Papst gesagt?

Zur Eröffnung der Antimissbrauchskonferenz mit knapp 200 Klerikern aus aller Welt hatte Franziskus am Donnerstag „konkrete Maßnahmen“ angekündigt – und damit Erwartungen an einen neuen Kurs im Umgang mit kirchlichen Opfern und Tätern geschürt.

„Sollte in der Kirche auch nur ein Missbrauchsfall ausfindig gemacht werden – was an sich schon eine Abscheulichkeit darstellt –, so wird dieser Fall mit der größten Ernsthaftigkeit angegangen“, versprach der Papst dann am Sonntag.

Doch es folgten eher vage Absichtserklärungen. Acht Punkte nannte der Pontifex: Der Kinderschutz soll Vorrang haben vor dem Schutz der Institution Kirche.

Missbrauchsfälle sollen nicht vertuscht, sondern der Justiz überstellt werden, externe Experten der Kirche bei der Aufarbeitung helfen. Die Auswahl der Priesterkandidaten müsse sorgfältiger werden. Die Leitlinien der Bischofskonferenzen zum Umgang mit Missbrauchsfällen sollen als Normen, nicht bloß als Orientierung dienen. Missbrauchsopfer müssten besser begleitet werden. Die kirchlichen Regeln für den Besitz und den Umgang mit pornografischem Material sollen strikter werden. Und schließlich: Die Kirche soll sich stärker im Kampf gegen Sextourismus engagieren.

Klare Konsequenzen bleiben aus

Das Wort „Machtmissbrauch“ fällt zwar, doch konkrete Worte zum internen Umgang mit kirchlichen Tätern findet Franziskus nicht. Opfervertreter hatten im Vorfeld der viertägigen Konferenz dagegen klare Konsequenzen gefordert: Ein Priester, der missbraucht, könne nicht länger Priester sein, und ein Bischof, der den Missbrauch vertuscht, nicht länger Bischof. Die Praxis sieht bis heute oft anders aus: In vielen Fällen waren kirchliche Täter weder angezeigt noch degradiert, sondern nur versetzt worden. Auch die anderen Punkte gehen kaum über das hinaus, was etwa in den deutschen Bistümern seit Jahren diskutiert, aber eben längst noch nicht überall angewendet wird.

Kardinal Reinhard Marx.
Kardinal Reinhard Marx. © dpa | Alessandra Tarantino

Kardinal Marx: Mehr als qualmiges Gerede

Der deutsche Kardinal Reinhard Marx verteidigte die Rede anschließend: „Ich kann nicht erkennen, dass das nur qualmiges, nebulöses Gerede war“, sagte der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz. Der Papst habe seine Leitlinien dargestellt, die die Bischofskonferenzen nun in ihren Ländern umsetzen müssten.

„Es darf nicht bei diesen vielen Vorschlägen bleiben, es muss konkret abgearbeitet werden.“ Der Vatikan kündigte am Sonntag an, die Glaubenskongregation werde unter anderem ein Praxishandbuch veröffentlichen, das Bischöfen in aller Welt klar zu verstehen gebe, was ihre Pflichten sind.

Wie reagieren die Kritiker?

„Ich hätte mir in der Rede von Franziskus zwar mehr Biss und auch mehr Konkretes gewünscht“, sagte die Münsteraner Sozialtheologin Marianne Heimbach-Steins unserer Redaktion. Der Papst habe mit seiner Rede aber ein wichtiges Signal gesetzt, weltkirchlich wie in Richtung der zögerlichen Stimmen unter den deutschen Bischöfen, etwa mit Blick auf die Transparenz bei der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle.

Man müsse die Kirche nun an ihren Ankündigungen messen: „Die Reform der Priesterausbildung, die Beteiligung von Frauen und die Frage des Zölibats – alles das steht jetzt im Raum.“

Die „Frage des Zölibats“ spielte zwar auf der Konferenz keine wirkliche Rolle. Mehr als zwei Drittel der Deutschen finden jedoch, es gehöre abgeschafft. In einer von unserer Redaktion in Auftrag gegebenen Umfrage sprachen sich 82 Prozent der Befragten dafür aus, Priester vom Zölibat zu entbinden. 67 Prozent seien „auf jeden Fall“ für die Abschaffung.

Wer noch Kritik an Papst Franziskus äußerte war der Münsteraner Theologe Thomas Schüller vom Institut für Kanonisches Recht. Ein „Fiasko“ war die Papstrede in den Augen von Schüller. „Es ist das Ende des Pontifikats in dem Sinne, dass Franziskus nicht als Reformpapst in die Geschichte eingehen wird, sondern als Bewahrer“, so Schüller.

Bund der Deutschen Katholischen Jugend enttäuscht

Anstatt konsequent aus der Opferperspektive die Verantwortung der Kirche zu benennen, sei die Rede ein routiniertes und uninspiriertes Abspulen von Selbstverständlichkeiten gewesen. Auch Thomas Andonie vom Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) zeigte sich enttäuscht: „Solange es keine unabhängigen Untersuchungen der Vertuschung, keine Übernahme von persönlicher Verantwortung und keine angemessenen Entschädigungszahlungen gibt, ist der häufig formulierte Wille zur Veränderung für uns nicht glaubwürdig.“

Für Irritationen sorgte der Papst mit seiner Einordnung der kirchlichen Fälle als Teil eines größeren Missbrauchsproblems, das vor allem „Eltern, Verwandte, die Partner von Kinderbräuten, Trainer und Erzieher“ betreffe. In der Kirche wiege das Problem schwerer, räumte der Papst ein – doch Kritiker wie Schüller reagierten verärgert: Franziskus habe das Problem der Kirche relativiert, indem er Missbrauch als gesamtgesellschaftliches Phänomen dargestellt habe. Empört reagierte auch Matthias Katsch vom deutschen Opferschutzverband Eckiger Tisch: „Die Rede des Papstes ist der schamlose Versuch, sich an die Spitze der Bewegung zu setzen, ohne sich der Schuld und dem Versagen zu stellen und wirkliche Veränderung anzugehen.“

Was bedeutet die Papst-Rede für die katholische Kirche in Deutschland?

Unmittelbar nach der Papstrede forderte Bundesjustizministerin Katarina Barley die katholische Kirche dazu auf, bei der Aufarbeitung der Missbrauchsskandale umfassend mit der Justiz zusammenzuarbeiten: „Missbrauchstaten sind von Strafgerichten zu beurteilen“, sagte die SPD-Politikerin unserer Redaktion. „Den Worten des Papstes müssen jetzt auch Taten folgen.“ Mit Blick auf die jahrzehntelange Praxis der Vertuschung von kirchlichen Missbrauchsfällen mahnte die Ministerin: „Unsere Strafprozessordnung kennt keine Geheimarchive.“ Schweigekartelle dürfe es nicht mehr geben. Zu lange habe die Kirche Erniedrigungen, Misshandlungen und Vergewaltigungen von Kindern verleugnet. „Der Gedanke, dass Kleriker, die schwere Schuld auf sich geladen haben, noch heute mit Kindern zu tun haben könnten, ist unerträglich“, so Barley. „Das Bemühen um Aufklärung ist überfällig. Es kommt für viele Opfer aber zu spät.“

Papst Franziskus (M) feiert eine Messe zum Abschluss des Gipfeltreffens der Katholischen Kirche zum Thema Missbrauch.
Papst Franziskus (M) feiert eine Messe zum Abschluss des Gipfeltreffens der Katholischen Kirche zum Thema Missbrauch. © dpa | Giuseppe Lami

Eine im September 2018 veröffentlichte Studie der Deutschen Bischöfe zum Ausmaß des Missbrauchs belegt, dass zwischen 1946 und 2014 in Deutschland mindestens 1670 katholische Kleriker 3677 Minderjährige missbraucht haben sollen. Insgesamt fanden sich bei 4,4 Prozent aller Kleriker Hinweise auf solche Taten. Die Forscher hatten zwar keinen freien Zugang zu den Archiven der 27 deutschen Bistümer, aber immerhin Einsicht in Zehntausende Personal- und kirchenrechtliche Strafakten. In zwei Bistümern seien Akten zuvor vernichtet worden, hieß es, andere Bistümer hätten solche Aktionen zumindest nicht ausschließen können. In jedem vierten Fall endete das Bekanntwerden des Missbrauchs ohne jegliche Sanktion. In vielen anderen Fällen war die einzige Strafe eine Versetzung. Es sei unwahrscheinlich, schrieben die Forscher, „dass es sich beim sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch Kleriker der katholischen Kirche um eine in der Vergangenheit abgeschlossene und mittlerweile überwundene Thematik handelt.“ Heißt: Der Missbrauch dauert an. (aba)